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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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woran erinnerst du dich noch?«
    »Menschenskind, Arthur, das ist unfair. Ähm, ein Gehweg mit Füßen, ein Gehweg ohne Füße, alles sehr lang, ein Gehweg im Regen, all die Bäume, im Frühling, und dann dasselbe im Winter, ja, Mensch, und das Wasserhuhn hier in der Gracht, das sich sein Nest aus allem möglichen Zeugs gebaut hat, Himmel, was für ein dämliches Vieh, so ein Nest nur aus Plastik und Dreckszeug, sogar ein Kondom war dabei, und als es fror …«
    »Rauschen, hab ich doch gesagt. Alles, was da ist und worauf keiner achtet.«
    »Die Welt nach Arthur Daane. Aber das ist alles. Du kannst doch nicht alles filmen.«
    »Nein, du kannst nicht alles filmen.« Und wenn man nicht reden konnte, so war dies das Ende des Gesprächs. Das war Erna. Und dort, auf einem Mäuerchen vor dem lächerlichen weißen Schloß, saß Elik. Sie hatte ihren Mantel ausgezogen und die Hände um die hochgezogenen Knie gefaltet.
    »Tut mir leid, aber ich mußte gerade mal rennen.«
    »Bin ich zu langsam gegangen?«
    »Nein, zu schwerfällig.«
    Sie sprang von dem Mäuerchen und machte es vor, Kinn vorgestreckt, Kopf leicht schwankend, als könne er sich nicht richtig auf dem Hals halten. Ein Grübler. Es war eine kuriose Darstellung, denn sie versuchte, sich gleichzeitig größer zu machen und dieses Größere dann wieder bodenwärts zu drücken.
    »Geh ich so? Das ist ein alter Mann, den du da nachmachst.«
    »Zieh deine eigenen Schlußfolgerungen. Hast du was aufgenommen? Ich sitz hier schon eine ganze Weile.«
    »Nein. Ich habe einen Umweg gemacht.«
    »Warum hast du die Kamera dann mitgenommen? Hier gibt’s, scheint mir, nicht viel zu filmen. Du hast mir übrigens vorhin keine Antwort gegeben.«
    Das Gespräch mit Erna war also ein Probelauf gewesen.
    »Zieh deinen Mantel an, sonst erkältest du dich. Ich zeige dir was, aber erst weg aus diesem Disneyland. Ich habe immer geglaubt, daß dieses Schloß eine Imitation ist, aber es ist echt.«
    Sie schauten auf den runden Turm mit der albernen kleinen Kuppel, die Fußgängerbrücke, die großen verputzten Steine.
    »Es ist schon als Ruine erbaut worden, das muß eine deutsche Spezialität sein. Nicht abwarten können, einen Vorschuß auf die Vergangenheit der Zukunft nehmen. Sowas sollte Speer nach den Wünschen Hitlers bauen, ja, nicht so einen Kitsch, sondern etwas Gigantisches, das nach tausend Jahren selbst als Ruine noch schön wäre. Auch Kitsch, natürlich. Es muß etwas mit Eile zu tun haben, den Dingen nicht ihren Lauf lassen zu können.«
    »Aber …«
    Er legte den Finger auf seine Lippen, und, als gehörte das noch zu derselben Bewegung, seinen linken Arm um ihre Schulter, spürte etwas Unwilliges, fast Bockiges, ließ wieder los, schob sie jedoch ganz leicht, vielleicht nur mit einem Finger, in Richtung Wasser. Sonnenlicht spielte im Schilf, ein paar Enten, in der Ferne, im Gegenlicht, ein kleines Boot, in dem zwei Gestalten ausgeschnitten schienen wie in einer Daguerreotypie.
    »Was siehst du?« fragte er, während er filmte.
    »Nichts. Na ja, Romantik. Schilfgürtel, Entchen, Bötchen, das Ufer drüben. Und unsere Füße, richtig?«
    »Bleib stehen.«
    Er filmte ihre Füße. Vier Schuhe im Gras, nahe am Wasser. Pelzstiefeletten. Ein läppisches Bild.
    »Du wolltest doch wissen, was ich mache?«
    Wie lange brauchte er, um dieser Unbekannten alles zu erklären? Nicht lange, denn sie entgegnete nichts, auch nicht, als sie beim Boot waren, als sie, nun langsam durchgefroren, auf die Überfahrt warten mußten. Diesmal waren sie allein. Von der Seite her sah er sie an, ihr verschlossenes Profil. Er befand sich auf der Seite mit der Narbe, und sie war, dachte er, wirklich ein Zeichen. An diesem grausamen dunklen Kratzer, dieser Rune, diesem Buchstaben ließ sich etwas entschleiern, etwas, das sowohl diese hartnäckige Stille als auch das plötzliche Wegrennen erklären würde, ein Schlüssel. Aber vielleicht gab es für Menschen keine Schlüssel.
    Sie tranken einen Glühwein in dem ländlichen Gasthof gegenüber der Fähre, er sah, wie die Hitze des Weins ihre Wangen färbte.
    »Ist der Tag zu Ende?« fragte sie plötzlich.
    »Das bestimmst du, ich hätte dir gern noch was gezeigt.«
    »Warum?« sagte sie in einem Ton, als müßte ein Protokoll aufgesetzt werden. Der Umgang mit Elik Oranje war möglicherweise nicht ganz einfach.
    »Das kann ich dir zeigen, wenn wir da sind. Aber dann müssen wir jetzt gehen, sonst ist es dunkel, es ist ziemlich weit. Bist du schon mal in

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