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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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jetzt diese Sträucher sind, stand ein Wachturm, und wo wir uns jetzt befinden, war ein Asphaltweg, auf dem die Leute sonntags spazierengingen. Und wenn man dann stehenblieb, wußte man, daß die Soldaten in dem Turm einen durchs Fernglas beobachten würden. Man blieb stehen und sah eine Bewegung, als wäre man unlösbar mit dem Kerl verbunden. Das war dann vielleicht doch komisch.«
    »Du hast mich falsch verstanden.«
    »Ja, wahrscheinlich. Jedenfalls war diese Absperrung auf unserer Seite durchsichtig, das Land dahinter war lockere Erde, die bis zu der Mauer dort hinten ging, und da mittendrin stand der Turm an einem Weg, auf dem sie hin und her fuhren, um zu kontrollieren und um die Wächter in den Türmen abzulösen. Dieses Stück Land hieß Todesstreifen, wer sich auf ihn wagte, wurde erschossen.«
    Nein, das Wort komisch würde er jetzt nicht mehr in den Mund nehmen. Er sah auf das leere Feld. Wenn hier ein Mädchen auf einem Pferd vorbeikam, gingen die Ferngläser sofort in die Höhe. Die Typen langweilten sich dort natürlich zu Tode. Wo die mittlerweile alle waren? Daran dachte er oft, wenn er im Osten herumlief oder in der U-Bahn saß. Aber das gehörte zu dem, was unsichtbar geworden war. Wenn sie hier allein gegangen wäre, dann hätte sie nichts gesehen, hier war nie etwas passiert, ein komischer Zwischenfall hatte sich ereignet, die Geschichte war vorbeigekommen und hatte nicht die geringste Spur hinterlassen. Was noch da war, befand sich in seinem Kopf und in dem einiger anderer. Es war alles Wirklichkeit gewesen, und jetzt war es nicht nur nicht mehr wirklich, sondern es schien auch nie Wirklichkeit gewesen zu sein. Eines Tages würde es niemanden mehr geben, der davon noch wußte. So etwas Ähnliches hatte sie doch gesagt, wenn alles bewahrt werden müßte, würde die Erde unter allen Erinnerungen zusammenbrechen. Toller Ausgangspunkt für jemanden, der sich mit Geschichte beschäftigte. Und trotzdem, er hatte in Nordfrankreich gedreht, in der Nähe der Somme, wo es solche merkwürdigen Flecke in der Landschaft gab, gräulich, aschig, nach all den Jahren lag immer noch der Schimmel jenes anderen Krieges darauf. Er bekam es nicht zusammen. Geschichtsschreibung durfte nicht ironisieren, aber die Ereignisse selbst waren komisch.
    Sie war vorausgegangen. Es wurde dunkel und kalt. Wie verhielt es sich denn, wollte er fragen, mit dem Thema, das sie beschäftigte? Wenn das, was er selbst erlebt hatte, so gnadenlos verschwinden konnte, und sogar so vollständig, daß es, wenn man etwas darüber sagte, schien, als sei es erfunden, wie war das dann bei einer Zeit, die bereits ganz hinter dem Horizont verschwunden war, umgekippt, sechsmal begraben? Was davon stimmte noch? Wenn er sie nicht kennengelernt hätte, dann hätte er nie etwas von dieser Königin und ihren Kriegen gehört. Hier hatte sich das Drama jedenfalls abgenutzt, da niemand mehr, sie vielleicht ausgenommen, davon berührt wurde. War es nicht komisch, sich mit so etwas zu beschäftigen? Es dauerte Jahre. Warum machte man so etwas?
    »Weil es passiert ist.«
    »Aber das hier ist auch passiert.«
    Sie sah ihn an, wie man ein lästiges Kind ansieht.
    »Das hier braucht nicht erforscht zu werden, das wissen wir. Das hier muß sich erst abnutzen, es ist zuviel. Und mit komisch habe ich den grauenvollen Stumpfsinn der ganzen Sache gemeint. Tut mir leid, wenn du das nicht verstanden hast.«
    Abnutzen. Da war das Wort wieder. Geschichte begann demnach also erst, wenn die Menschen, die etwas damit zu tun hatten, daraus verschwunden waren. Wenn sie die Fiktionen der Historiker nicht mehr stören konnten. Folglich würde man nie wissen, was wirklich passiert war.
    »Es gibt kein wirklich passiert. Nie ist etwas wirklich passiert. Alle Zeugen lügen sich ihre eigene Wahrheit zurecht. Geschichte, das ist Widerspruch. Im Internet kannst du lesen, daß es die Gaskammern nicht gegeben hat.«
    »Das sind Faschisten.«
    »Und Verrückte. Aber unter diesen Verrückten und Faschisten gibt es Historiker, und es steht da geschrieben.«
    »Und was machst du dann, da im Mittelalter?«
    »Suchen. Wie eine Ameise in den Fiktionen der anderen. Und frag mich jetzt nicht noch mal, warum. Steine aufheben und nachsehen, was darunter ist. Dinge entschlüsseln. Wenn ich mich mit dem hier beschäftigen würde, müßte ich das ganze Land hochheben, um nachzuschauen, was darunter ist. Hier wimmelt es noch. Das ist zu groß für mich.«
    Sie schaute noch einmal auf das leere Land.

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