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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Nebel, Dunkelheit. In wenigen Minuten würde alles verschwunden sein. Sie drehte sich um, ging vor ihm her. »Laß uns was trinken gehen, ich brauche einen Schnaps.«
    In dem alten Dorfkrug bestellte sie einen Doornkaat, trank ihn schnell, bestellte einen zweiten.
    »Willst du nichts essen?«
    »Nein, ich muß los.«
    Ehe er sich’s versah, war sie aufgestanden und schon auf dem Weg zum Ausgang.
    »Aber ich kann dich doch hinbringen.«
    »Ich habe gesehen, daß hier ganz in der Nähe ein Bus geht, der Zweiundzwanziger.«
    Wann hatte sie das herausgekriegt? Er kam sich lächerlich vor. So eine Zicke. So was machte man doch nicht. Draußen sah er die Scheinwerfer des Busses auf den kleinen Platz zufliegen. Sie mußte also auch noch nachgeschaut haben, wann das Mistding ging. Timing. Sehr schnell kam sie auf ihn zu, stellte sich kurz auf die Zehen und küßte ihn flüchtig, eine leichte Berührung, schnell und feucht, wobei sie ihre Hand für einen Moment an seinen Hals legte und ihm mit den Fingern so etwas wie einen kleinen Schubs gab, etwas, das in der Nichtigkeit dieser Abschiedsgeste wie ein eigenes Streicheln hängenblieb, eine Botschaft oder ein Versprechen, das auf keine Weise mit Worten besiegelt wurde. Erst als sie zur Tür hinaus war, ein Schemen, ein Blitz hinter dem Glas der Drehtür, und dann dieser Schemen schon wieder schneller unter den Kastanien zum Bus und dann plötzlich aufrecht und still hinter den Fenstern des Busses, ein blasses Gesicht im gelblichen Licht, ein Gesicht, das nicht mehr zurücksah, da wurde ihm klar, daß er noch immer keine Adresse von ihr besaß und auch keine Telefonnummer. Und sie besaß ebenfalls nichts von ihm. Hatte auch nach nichts gefragt. Doch von jemandem, der an einem dunklen Winterabend wußte, wann der Bus aus Lübars abfuhr, wo sie noch nie gewesen war, konnte man alles erwarten. Er schob den Wein beiseite und bestellte sich einen doppelten Doornkaat. »Dann weiß ich wenigstens, wie ihr Mund schmeckt.«
    *
    * *

Wir stören. Noch ein mal. Doch unsere Interventionen werden immer kürzer, versprochen. Ja, natürlich sind wir ihr gefolgt, der rüttelnde Bus, die Haltestellen, die zahllosen Haltestellen, an denen keiner steht und niemand aussteigen will, wo der Bus aber trotzdem hält, weil er fahrplanmäßig ankommen und fahrplanmäßig abfahren muß, auch ohne Seelen. Wir befinden uns in einem geordneten Land, hier hat die Zeit kein Temperament, sondern nur Pflichten. Es war kein würdiger Abschied gewesen, dachte sie in dem Bus. Sie hatte den Mann wie ein ramponiertes Flaggschiff zurückgelassen. Sie geht über den Falkplatz. Auch darüber hätte er ihr etwas erzählen können, er, der zuviel weiß und es so schlecht zum Ausdruck bringen kann. Hier hatte er auch gedreht. Eine kahlgeschlagene Fläche, 1990. Ostberlin. Von allen Seiten waren sie gekommen, einfältige Kinder, Menschen guten Willens. Sogar Vopos waren dabeigewesen. Bäume hatten sie gepflanzt, chaotisch, amateurhaft, etwas, das ein Park oder Wald hätte werden sollen, werden können. Ein neuer Wald in einer alten, angefressenen Stadt. Die Anwohner dieses Platzes hatten sich nicht beteiligt, aus den Fenstern ihrer farblosen, abgeblätterten Häuser schauten sie auf das törichte Treiben da unten. Mit diesem elenden unbeweisbaren Recht, das zum Volk gehört, wissen sie schon längst, daß, was da unten geschieht, nicht die Zukunft ist. Die Bäume, zwischen denen sie geht, sind verwaist, der Abstand zwischen ihnen und ihre spezifische Ungleichheit spiegeln das Fiasko dieses so hoffnungsvollen Tages wider, und weil er jetzt nicht da ist, um es ihr zu erläutern, zu erzählen, gehört folglich auch dieser Tag zu der formlosen, unsichtbaren Geschichte, zu dem, was wir immer sehen, weil wir nie etwas vergessen können. Absolute Summe, vollkommene Objektivität, das, was ihr nie erreichen könnt, Gott sei Dank. Wir aber müssen es, wir beobachten das Labyrinth aus Egos, Schicksal, Absicht, Zufall, Gesetzmäßigkeit, Naturerscheinungen und Todestrieb, das ihr Geschichte nennt. Stets seid ihr an eure eigene Zeit gebunden, was ihr hört, sind Echos, was ihr seht, Spiegelungen, nie das unerträgliche, nicht auszuhaltende ganze Bild. Und dennoch ist das alles wirklich passiert, und nichts, keine Handlung, kein namenloses, unsichtbar gewordenes Ereignis fehlt, allein schon weil wir das wissen, halten wir das Gebäude instand, in dem ihr lebt und das ihr immer wieder in einem sich fortwährend verändernden, Zeit und

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