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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Klick.
    Zenobia.
    »Ich habe ein paar Fotos reingekriegt, die du dir anschauen mußt.«
    Was hat sie gesagt? Anstarren? Auch gut. Aber anschauen ist besser.
    Sobald er an diese Fotos denkt, wird er ruhiger. Nach Hause gehen, kalte Morgenluft. Mit einem Umweg. In der Autorenbuchhandlung ein Buch für Zenobia kaufen. Etwas Anständiges essen. Dann anschauen.
    Arno.
    »Wo ist mein Auto? Ich brauch es heute!«
    Himmel, wo war sein Auto? Auto, Auto. Weißer Alfa, Philosophenauto. Aber wo? Plötzlich wußte er es. Behindertenparkplatz. »Darauf steht hier die Todesstrafe.« (Victor) »Auf Krücken verfolgen sie dich bis zu den Pforten der Hölle. Mit ihrem eisernen Haken wählen sie ununterbrochen die Nummer der Polizei.«
    Kein Buch für Zenobia. Rennen.
    NPS.
    »Wir suchen noch einen Kameramann für Rußland, eine Reportage über Mafia, Korruption und so. Auf jeden Fall eine kugelsichere Weste mitnehmen, haha. Danach vielleicht noch Afghasien oder wie heißt das noch gleich …«
    Während die Stimme in seiner Tasche immer noch quäkt, rennt er auf den Bahnsteig, steigt vier Minuten später an der Deutschen Oper aus, kommt außer Atem in der Goethestraße an, reißt den Strafzettel unter dem Scheibenwischer heraus, hört nicht auf das Geschrei des weißhaarigen Behinderten aus dem offenen Fenster … unverschämt, Arschloch … und entrinnt gerade noch dem um die Ecke biegenden Abschleppwagen.
    *
    Auf den hohen Treppen zu Arnos Wohnung befindet er sich übergangslos im Mittelalter. Sphärenhafte Frauenstimmen, begleitet von einem kaum ondulierenden Instrument, ein langer, fast nasaler Ton unter diesem Stimmengeflecht, er bleibt lauschend stehen. Die Tür steht weit offen, er muß durch das große Wohnzimmer, um in Arnos Arbeitszimmer zu gelangen, die ganze Zeit von der Musik begleitet – und als er dort eintritt, sitzt sein alter Freund da wie ein Mönch in einem Skriptorium, das Gesicht viel zu dicht an dem Buch, aus dem er etwas abschreibt. Bücher auf dem Tisch, Bücher in den Schränken, Bücher auf dem Fußboden, undenkbar, daß sich hier noch jemand zurechtfindet.
    »Das? Hildegard von Bingen. Wunderbar! Ich komme mir vor wie der Rektor eines Nonnenklosters. Kannst du dir diesen Genuß vorstellen? Ich arbeite hier, und hinter dieser Wand ist die Kapelle mit lauter gelehrten heiligen Frauen. Studium Divinitatis singen sie, die Mette des Festes der heiligen Ursula, den allerersten Morgengesang, Tau auf den Rosen, Nebel über dem Fluß. Und daran ist nur deine Freundin schuld.«
    »Was hat die damit zu tun?«
    »Sie hat mir gestern das Thema ihrer Doktorarbeit gesagt, und als ihr weg wart, dachte ich, mal schauen, was für eine Musik ich aus dieser Zeit habe.«
    »Hat dich wohl beeindruckt?«
    »Ist das etwa nicht erlaubt? Ja, beeindruckt. Vielleicht auch ein bißchen gerührt. Zunächst einmal durch das Gesicht, diese Intensität, dieses Mißtrauen. Aber vor allem … ich kenne so wenig junge Leute. Sogar du bist nicht mehr jung, und dabei bist du noch so ungefähr der Jüngste, den ich kenne. Und dann sehe ich sie auf der Straße oder in der U-Bahn oder in diesem Ding da, bei Demonstrationen oder so, und dann denke ich, damit habe ich nichts mehr zu schaffen, das ist eine Welt, in der es meine« – und er deutete mit einer Armbewegung um sich, die nicht nur die Tausende von Büchern, sondern auch das unsichtbare Frauenkloster in den Lautsprechern einzuschließen schien – »schon fast nicht mehr gibt. Bei den Kontakten, die ich ab und zu mit Studenten oder so habe, Kindern von Freunden, merke ich, daß sie kaum noch etwas wissen, die Lücken sind unvorstellbar, sie leben in einem formlosen Präsens, die Welt hat nie existiert, man kann noch nicht mal sagen, sie leben nach dem jeweiligen Wahn des Tages, denn sie scheinen sich für nichts ernsthaft zu interessieren, und dann atmet man bei so jemandem auf, dann denke ich, Tieck, altes Weib, du hast unrecht, es gibt auch andere.«
    »Noch ist Polen nicht verloren.«
    »Lach nur. Schau …« Er suchte zwischen den Büchern, wobei eine große aufgeschlagene Schreibkladde zum Vorschein kam, in der er offenbar eben noch geschrieben hatte, denn auf der einen Seite lag ein aufgeschraubter Füller. Arno Tieck publizierte alle paar Jahre eine Sammlung seiner Essays, Meditationen über Dinge, die er erlebte, Bücher, die er las, Reisen, Gedanken.
    »Du hast gestern einen ziemlich abwesenden Eindruck gemacht, du hattest es wohl eilig?«
    »Das Licht.«
    »Ja, natürlich. Aber

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