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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Sprache unterworfenen Gedankengang beschreiben wollt, ihr, die ihr euch nie von Ort und Zeit lösen könnt, was immer ihr auch versucht. Das Buch, das ihr schreibt, ist die Fälschung des Buches, das wir immerzu lesen müssen. Nennt es Kunst, Wissenschaft, Satire, Ironie – es ist der Spiegel, in dem immer nur ein Teil sichtbar ist. Eure Größe besteht in dem ewigen Bemühen, mit dem ihr bis zuletzt damit fortfahren werdet. Die einzigen Helden seid ihr. An uns ist nichts Heldenhaftes.
    Jetzt schläft sie. Nur wir sind wach, wie immer. Ihr Buch liegt neben ihr. Ja, natürlich haben wir sie alle gekannt. García, König von Galicien, Ibn Al Ahmar, König von Granada, Jeanne von Poitiers, Isaac Ibn Mayer, Esteban, Abt des Klosters La Vid. Was will diese Lebende mit all den Toten? Suchen, hat sie gesagt. Wir dürfen ihr nicht helfen. Die Namen in diesem Buch, in diesen Büchern, flüstern und wälzen sich unruhig herum. Sie sorgen sich um ihre Wahrheit, aber auch ihnen können wir nicht helfen. Stimmen auf der abgetretenen Treppe, es knarrt in dem alten Haus, in dem sie schläft, spanische Stimmen in der winterlichen Berliner Nacht, Stimmen, die gehört werden wollen, die ihre Geschichte erzählen wollen, die Siegel erbrechen wollen, das, was nicht möglich ist. Der Wind bewegt sich in dem zerschlissenen Vorhang, die Fenster haben Ritzen. Jemand müßte sie zudecken.
    *
    * *

Am nächsten Morgen weiß er nicht mehr, wie er nach Hause gekommen ist, und das ist ihm schon seit Jahren nicht mehr passiert. Böse Träume waren die Strafe für zuviel Alkohol, dadurch hatte er gelernt, sich zurückzuhalten. Die Haut zwischen ihm und dem Chaos war offenbar sehr dünn, und in dieser Nacht hatten Geräusche und Stimmen sie durchdrungen. Sie hatten Bilder mitgebracht, die er nie wieder zu sehen gehofft hatte, nicht so, ihre bekannten, verschwundenen Gesichter in allen Tonarten des Verfalls, des Verderbens, Fetzen von Unglücken, Hohngelächter, Annäherungen, gefolgt von viel schnellerem Sichentfernen, bis er sich selbst wach geschrien und wild nach dem Licht gegriffen hatte, Licht, das das Zimmer als Gefängniszelle enthüllte, die Wände feindselig kahl, die Kastanie draußen ein haushohes hölzernes Monster, das seine Arme hereinstrecken wollte. Hatte er nun eigentlich getrunken, weil diese Frau ihn auf eine so blödsinnige Art und Weise hatte sitzenlassen? Er glaubte, nicht, dafür hatte es doch zu sehr nach Flucht ausgesehen. Nein, es war eher etwas anderes, etwas, das er von sich selbst kannte und wogegen er normalerweise besser gewappnet war, eine Reaktion, die eintrat, wenn, wie er es nannte, zu vieles nach innen geschlagen war, zu viel gedacht, zu viel summiert, zu viel gesehen worden war, das keinen anderen Weg hatte finden können als den nach innen. Dafür gab es Anzeichen, und er konnte sie gut erkennen: ein vertrautes Gesicht, das plötzlich wie das eines Fremden aussah, eine Stimme, die er am Telefon nicht erkannte, Musik, die er regelmäßig hörte und die ihn plötzlich, auf einen Schlag, mit ihrer ganzen Magie zu durchdringen schien. Alles schärfer eingestellt, Farben, Laute, Gesichter, das Bekannte durch seine Unbekanntheit kaum zu ertragen. Schlafen, vor sich hinstarren war dann das beste Mittel, wie ein kranker Hund in der Ecke, regungslos, in einer Stille, die nicht still sein wollte, sondern ihn beklemmend umschloß. Die Bilder, die dann kamen, mußte man ertragen, den Abwesenden mußte er mimen, damit sie ihn nicht berührten.
    Daß er nach Hause gekommen war, wußte er noch, das Telefon hatte ihn angestarrt wie ein viel zu großer schwarzer Käfer, er durfte nicht anrufen, er durfte keine Nachrichten abhören. Auch nicht von Erna? Auch die nicht, ihre Stimme könnte wie die einer anderen klingen oder die falschen Dinge sagen. Nein, nein, statt dessen sein Weltempfänger, dieser auf einmal so gefährliche Plastikstein mit dem einen bösartigen Fühler, durch den die Katastrophen eingesogen wurden, Tamiltiger in Hinterhalt auf Landmine, vierzehn Tote, weggespült von einem deutschen Schlager für nächtliche Lkw-Fahrer, Autobahn, Nebel, Worte, Tiger, alles ausgerechnet in seinem Zimmer, und er dachte daran, daß diese Stimmen jetzt auf der ganzen Welt gehört wurden, überall traten Tiger auf eine Landmine, im nassen Tuch der Atmosphäre schwirrten sie als Geister umher auf der Suche nach Antennen, durch die sie eindringen konnten, irgendwo war es hell geworden, irgendwo auf einer Veranda gehörten Tiger zu

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