Allerseelen
den Frühstücksgerüchen, Speck, Spiegeleier, Vögel im Jakarandabaum, die Stimme knarzend in einem Lastwagen auf dem Weg nach Phnom Penh, gestört bei Pater Abelardus im Leprahaus auf Sulawesi, im klimatisierten Schlafzimmer am Pazifik, Tiger, Aktien, Rupien, jemand bekommt jetzt, bekam vor einer Stunde eine Spritze in einem ordentlichen Raum in Texas, wo er auf einem Bett liegt wie ein wirklich Kranker, der vom Leben geheilt werden muß, durch die Fenster auf beiden Seiten schauen seine Familie und die seines Opfers interessiert zu, aber wie ist es bloß möglich, daß er das alles noch hört, er hat das Radio doch längst ausgeschaltet, wie kommt es dann, daß die Geräusche der nie innehaltenden Welt doch noch weiterströmen?
Was hatte Victor gesagt?
»Wir sind die größten Helden der Geschichte, wir müßten bei unserem Tod alle dekoriert werden. Keine Generation hat je so viel wissen, sehen, hören müssen, Leid ohne Katharsis, Scheiße, die man in den neuen Tag hineinschleppt.«
»Es sei denn, man leugnet es. Das tun doch alle, oder?«
»Alle tun so, als ob. Dafür gibt es ausgezeichnete Strategien. Wir schauen und machen es gleichzeitig unsichtbar. Und trotzdem muß es irgendwo bleiben. Es sickert in deinen geheimen Archivschrank ein, schleicht sich in den Keller deines Computers. Was glaubst du, wohin deine Bilder gehen? Du machst sie doch nicht für den luftleeren Raum? Und auch du willst, daß es möglichst gut aussieht, schließlich bist du Fachmann. Die Ästhetik des Grauens. Und wir dürfen nicht darüber sprechen, alles, was man sagt, ist ein Klischee. Da ziehe ich doch den Dorferzähler vor: ›In einem Land, weit, weit von hier …‹ Das halte ich gerade noch aus. Was soll ich mit dem ganzen Elend, das mir tagtäglich vorgesetzt wird? Ich möchte das Leid dieser Welt in Reimen, in Hexametern, vorgetragen von John Gielgud, in einem schwarzen Moirémorgenmantel, aus einem in rotes Maroquin gebundenen Buch mit Farbstichen von Rubens. Und du darfst nur noch kleine Entchen filmen, die in einem Teich ohne Ratten hinter ihrer Mutter herschwimmen, oder hellblonde Kinder an ihrem ersten Schultag, mit Griffeln und Schiefertafeln, oder junge verlobte Paare mit neuen Schuhen. Was hältst du davon, Bildermensch?«
Bildermensch hatte keine Antwort gewußt, hatte nur diese neuen Schuhe vor sich gesehen, solide holländische Schuhe an einem sonnigen Teich mit kleinen Entchen, und jetzt, während er auf dem Fußboden in seinem Zimmer lag, wollte er das Bild dieser Schuhe wieder wachrufen, beruhigende braunglänzende Schuhe, die sich ruhig auf einem Weg ohne Ende dahinbewegten, so daß man ihre gleichmäßigen Schritte bis zum Horizont zählen konnte, wo der Schlaf dann vielleicht doch noch wartete und einen Schleier bereithielt, den man über alle Trugbilder werfen konnte, eine Verdunkelung, die bis zum neuen Wintertag anhalten würde, wenn er langsam und geheilt zusammen mit der leise grummelnden Stadt erwachen würde.
Vier Uhr, fünf Uhr, in den fernen Außenbezirken begann die S-Bahn zu fahren, die ersten U-Bahnwagen krochen unter die Erde, um die Heerscharen der noch mit Nacht bekleideten Menschen zu ihrer Arbeit zu bringen, die Busse hatten sich bereits auf ihren immergleichen Weg gemacht. Er lag totenstill da und hörte alles, das leise Grummeln, Sirren, Rauschen der Welt, zu der er gehörte.
*
Als er zum zweitenmal wach wird, ist das Licht pulvriggrau, dies wird ein richtiger Berliner Wintertag, graue Dämmerung zwischen zwei Nächten. »Nicht verweilen« (Victor), aufstehen, nicht verweilen, rasieren, duschen, das Radio nicht einschalten, heute gibt es keine Nachrichten, Kaffee im Bahnhof Zoo an hohen Stehtischen zwischen Obdachlosen, vietnamesischen Zigarettenverkäufern, Polizisten mit maulkorbtragenden Hunden, Erbrochenem, Sägespänen, rumänischen Putzfrauen, Junkies, Bettlern, Wurstgestank, Männern mit grauen abgetretenen Schuhen hinter dem Schrei der Bildzeitung , ein neuer Tag, der um ihn herumtanzt und -wirbelt, alle echt, das Personal von Metropolis und er ihr Diener, Porträtist und Archivar, der seinen Kaffee zusammen mit dem Bulgakow-Kater trinkt, der mannshoch neben ihm steht und seinen weichen, wolligen Arm um ihn legt, so daß die Tatze mit den langen, gebogenen, scharfen Krallen auf seiner Schulter ruht. Er ruft seinen Anrufbeantworter an. Ernas Stimme.
»Wie heißt sie? Wer seine beste Freundin schon fünf Tage lang nicht angerufen hat, hat eine Frau kennengelernt.«
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