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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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unser Gespräch hattest du nicht so ganz mitverfolgt?«
    »Nicht richtig, nein.«
    »Na ja, also, es ging über ihr Studium. Sie vertritt ziemlich ausgeprägte Ansichten. Anscheinend besucht sie Hegelvorlesungen von irgend so einem Langweiler, und jetzt verkündet sie, daß Hegel nichts taugt, eine Pseudoreligion …«
    »Da muß ich passen, Arno, du weißt, ich bin die Abteilung Bild.« »Ja, ja, aber trotzdem. So schwer ist das nun auch wieder nicht. Ich hatte ihr sagen wollen, daß da noch soviel mehr ist … natürlich wollte ich sie nicht mit Abstraktionen langweilen, aber ich hätte ihr gern etwas über den phantastischen Augenblick erzählt, in dem Hegel in seinem Jenaer Studierzimmer die Kanonen hört, das Donnern von Napoleons Kanonen in der Schlacht von Jena, und in dem Moment weiß er, stell dir vor, für ihn ist das dann so, da weiß er, daß die Geschichte in ihre Endphase getreten ist, eigentlich schon darüber hinaus ist … und er ist dabei, er erlebt den Moment der Freiheit mit, sein Konzept stimmt, mit Napoleon ist eine neue Zeit angebrochen, es gibt keine Herren und keine Knechte mehr, diesen Gegensatz, der die gesamte Geschichte hindurch bestanden hat …«
    »Arno, ich wollte dir nur dein Auto zurückbringen.«
    »Ja, sie wollte auch nichts davon wissen. Ich sage ja gar nicht, daß das alles so ist, betrachte es meinetwegen als Metapher. Aber kannst du dir diesen Moment wenigstens vorstellen? Der Code Napoléon im verkrusteten Deutschland jener Tage … und dann kommt ein Staat, in dem alle Bürger frei und autonom sein sollen, diese Aufregung. Überleg dir mal, was das in jener Zeit bedeutet hat!«
    »Lieber Freund, du stehst da wie ein Volkstribun.«
    »Tut mir leid.« Arno setzte sich wieder.
    »Aber du wolltest doch nicht im Ernst sagen, daß die Geschichte in dem Moment aufhörte?«
    »Ach nein, aber eine Geschichte hat doch aufgehört … und das war gewissermaßen die der Welt bis zu diesem Zeitpunkt, allein schon deswegen, weil Hegels Theorien solche immensen Auswirkungen haben sollten. Etwas war unwiderruflich vorbei, und er wußte das. Nichts konnte mehr so bleiben, wie es war. Aber ich will dich nicht länger langweilen. Bringst du sie wieder mal mit?«
    »Ich habe nicht mal ihre Adresse.«
    »Oh. Ich hatte etwas für sie herausgesucht. Über Methoden der Geschichtsschreibung. Plutarch, der gegen Herodot wettert, weil der lügt, na ja, der Beginn aller Kontroversen, welches sind deine Quellen, wieviel hast du erfunden … Darüber sprachen wir, das beschäftigt sie, glaube ich. Und dann natürlich Lucianus, das ist wunderbar, wo er sagt, daß er nicht der einzige Sprachlose sein will, der einzige, der in einer polyphonen Zeit schweigt … aber ich weiß nicht, ob ihr das etwas sagt, sie hat behauptet, alle Geschichtsvorstellungen stammten von Männern, ach, das stimmt ja vielleicht auch, aber was soll man dazu sagen, ich kenne, glaube ich, auch keine großen Historikerinnen, keine vom Range eines Mommsen oder Macauly oder Michelet, aber wenn du das sagst, ist es auch wieder nicht recht, das kommt dann daher, weil Männer dieses Gebiet usurpiert und mit ihren Gesetzen darüber verdorben haben, was Geschichte ist oder nicht ist, muß oder nicht muß …« Er sah Arthur ein wenig hilflos an. »Dazu kann ich immer wenig sagen.«
    »Aber was will sie dann?«
    »Spricht sie mit dir denn nicht darüber?«
    »Arno, wir kennen uns kaum. Eigentlich gar nicht.«
    »Was seid ihr Niederländer doch für komische Leute. Wie bist du dann an sie gekommen? Als sie hier mit dir zusammen auftauchte, dachte ich, daß du, daß ihr …«
    »Falsch gedacht.«
    »Schade …« Er hielt mit einemmal inne und legte einen Finger auf seine Lippen. »Hör mal, diese Stimmen, da, da …«
    Arthur begriff, daß er etwas ganz Besonderes hören müßte, und sah seinen Freund fragend an. Noch immer das gleiche hohe Jubilieren, wunderschön, aber was meinte Arno?
    »Hier, da ist es wieder. Diese Hildegard von Bingen war wirklich eine phantastische Komponistin. Und eine Philosophin und Dichterin dazu! ›Aer enim volat … die Luft nämlich weht dahin …‹ Schau, es geht die ganze Zeit zwischen E und D hin und her … E, das hast du gerade in der vierten Antiphon gehört und jetzt wieder in der siebten, das ist das weibliche Prinzip … und dann kommt sechs und acht, und das heißt, damals, männliche Würde, weibliche Spiritualität, männliche Autorität, ja, es war zwar Mittelalter – das darf man natürlich auch

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