Allerseelen
nicht mehr sagen –, aber hörst du, wie großartig sie das gegeneinandersetzt? Na ja, alles vorbei, niemand hört das mehr.«
»Ich jedenfalls nicht. Aber was wolltest du damit sagen, mit dem ›schade‹?«
»Oh, daß ich sie sehr bemerkenswert fand. Es schien mir für dich zwar, na ja … was ich unserem kurzen Gespräch entnahm, war, daß Menschen wie ich sie überhaupt nicht interessieren. Weißt du, wie sie mich genannt hat? Konstruktivist! Konstruktivisten, das sind Leute, die sich irgendein Konstrukt ausdenken, damit ihre Vorstellungen von was weiß ich, der Wirklichkeit, der Geschichte, stimmen. Männerphantasien. Sie will sich ausschließlich mit dieser einen Nische beschäftigen, die sie sich ausgesucht hat, diese mittelalterliche Königin …«
»Und deswegen die Musik?«
Arno machte ein leicht beschämtes Gesicht, als habe man ihn bei etwas ertappt. Das Zimmer gehörte jetzt nur noch den Stimmen.
»Ja. Ich hab mir das so vorgestellt: Man sucht sich etwas aus, eine Zeit und einen Ort, eine Person. Von dieser Zeit ist natürlich nicht mehr sehr viel erhalten. Aber immerhin Gebäude, Kirchen, Handschriften, und dann diese Musik – es ist nämlich genau die Zeit. Damit gewinnt man doch ein wenig mehr Eindruck von diesen Menschen …«
»Aber hat das denn so geklungen? Das sind doch nur Rekonstruktionen, oder? Was du auf dieser CD hörst, ist doch unser Mittelalter?«
»Das weiß ich nicht. Ich denke, es kommt dem ziemlich nahe. Hier, genau wie das da.«
Und er gab Arthur die Karte, auf die er seine Anmerkungen für Elik geschrieben hatte.
»Gib ihr das mal.«
»Was ist das?«
»Ein Wandgemälde aus einer Kirche in León, eigentlich ein Deckengemälde. Die San Isidoro. Dort ist das Pantheon der frühen spanischen Könige. Vielleicht liegt ihre Urraca da auch. Jedenfalls ist es das zwölfte Jahrhundert, und der Ort stimmt ebenfalls.«
Arthur dachte daran, wie lieb ihm dieser Freund geworden war. In den Niederlanden gab es vielleicht auch solche Menschen wie ihn, aber er kannte sie nicht. Menschen, die so irrsinnig viel wußten, gab es wahrscheinlich in Hülle und Fülle, aber solche, die auch so darüber sprechen konnten, daß man es auf Anhieb verstand, nie von oben herab, sondern immer so, daß man sich mindestens zehn Minuten lang in dem Glauben wiegen konnte, jetzt verstehe man es ebenfalls, die waren selten. Später, wenn man versuchte, ein solches Gespräch zu rekapitulieren, lief das auf eine böse Enttäuschung hinaus, doch irgend etwas blieb immer hängen, und er hatte den Eindruck, er habe in den Jahren, die er Arno nun schon kannte, viel von ihm gelernt. »Wann hast du das bloß alles gelesen?« hatte er ihn einmal gefragt.
»Als du unterwegs warst. Und täusch dich nicht, Unterwegssein ist auch Lesen. Auch die Welt ist ein Buch.« Das hatte sich in erster Linie nach einem Tröstungsversuch angehört. Arthur sah sich die Karte an. Ein Hirte mit einem Stab und einer Art viereckigem Blasinstrument. Ponyfrisur, ein Gewand, das an den Knien aufschlug, Pantoffeln. Eben so, wie ein Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts sich einen mittelalterlichen Hirten vorstellt. Gut getroffen. Troubadoure in Wein- und Käsebuden sahen genauso aus.
»Witzig«, sagte Arno, »wenn man sich so einen Körper anschaut. Damals wußten sie nichts davon. Hast du das nicht mal gesagt? Hirnstamm, elektronische Impulse, Enzyme, Blutkörperchen, Neuronen, nichts von alledem. Muß entzückend gewesen sein. Wenn sie je etwas davon sahen, dann auf dem Schlachtfeld, wenn sie ein Stück davon abgehackt hatten. Bis Vesalius hat es noch eine Weile gedauert. Und mit exakt dem gleichen Hirn dachten sie andere Dinge. Wirst du sie noch mal besuchen?«
»Suchen, meinst du wohl.« Und er erzählte von dem gestrigen Abschied.
»Oh.« Arno machte ein bedrücktes Gesicht.
»Ich habe manchmal wirklich das Gefühl, daß ich von einem Ballon aus auf meine Zeitgenossen schaue. Oder ihnen zuhöre. Die Hälfte der Zeit habe ich keine Ahnung, worum es geht.«
»Dieses Gefühl müssen sie dann ja auch haben, wenn sie dich reden hören.«
»Ja, vermutlich. Erst war alles absurd, jetzt wird es skurril.« Er seufzte. »Aber was wirst du jetzt tun? Wirst du sie suchen? Wie macht man so was eigentlich? Muß romantisch sein.«
Und genau das gefällt mir nicht, dachte Arthur. Er versuchte, Abneigung gegen sie zu empfinden, doch das gelang ihm nicht recht. Dieses Gesicht. Als wäre sie ständig kurz davor, zuzubeißen.
»Von dieser Königin
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