Allerseelen
habe ich bis jetzt nicht viel kapiert. Du? Wie ich dich kenne, hast du bestimmt schon nachgeschlagen.«
»Du etwa nicht?«
»Da stand nicht viel.«
»Es gibt auch nicht viel«, sagte Arno. »Nur ein paar Fakten und Jahreszahlen. Mit acht Jahren verheiratet worden, schon früh ein Kind, verheiratet mit einem aus Burgund. Schon damals kannte man sich untereinander. Hab vergessen, wie der hieß. Stirbt im übrigen auch. Inzwischen hat sie ein ganzes Königreich geerbt und heiratet wieder, diesmal den König von Aragón, der sie schlägt, aber nicht vögeln kann. So stand das zwar nicht da, aber das kennt man ja. Die Ehe blieb kinderlos. Zeitgenössische Quellen etcetera.«
»Du weißt ja schon eine Menge.«
Arno machte ein leicht schuldbewußtes Gesicht. »Ach, nachdem ihr beide gestern weg wart. Ich mußte sowieso in die Universitätsbibliothek. Da hab ich ein bißchen in der frühspanischen Geschichte herumgeschnüffelt. Aber man wird kaum schlau daraus. Erstens einmal gibt es da noch gar kein Spanien. Die Grenzen verschieben sich ständig, zum Verrücktwerden. Muslime und Christen, und die wieder in alle möglichen kleineren und größeren Reiche aufgeteilt, man metzelt sich gegenseitig nieder – oder auch nicht, und jeder heißt überdies noch Alfonso, was die Sache auch nicht gerade einfacher macht. Ihr Vater, ihr zweiter Mann, ihr Bruder, alles Könige, alles Alfonsos, der Erste, der Sechste, der Siebente, und trotzdem …«
»Und trotzdem?«
»Na ja, es geht eben darum, wie man letztlich über Geschichte denkt. Was ist verzichtbar? Sind große Ereignisse wichtiger als kleine? Die ewige Frage des Bachchors oder der Weinsoße …«
»Hättest du die Güte, das genauer zu erklären?«
»Bachchor. Sechzehn Soprane, sechzehn Bässe, etcetera. Ein Baß ist krank, merkt man das? Sechzehn sind vorgeschrieben, sollen es sein. Einer fehlt, nein, das merkt man nicht. Vielleicht der Dirigent, aber du nicht. Nun fehlen zwei, drei … ab wann stimmt es nicht mehr? Die Weinsoße erspare ich dir, das schmeckst du schon selbst. Laß uns mal annehmen, deine Freundin ist gut, ist irgend etwas auf der Spur. Womit sie und alle diese Leute sich beschäftigen, ist, ein Loch in der Zeit zu füllen, das da ist und nicht da ist.«
»Da ist und nicht da ist? Mein Gott!«
»Nein, hör doch mal zu. So schwer ist es nicht. Die Welt, so wie sie ist, ist das Resultat bestimmter Ereignisse. Von denen kann man folglich nichts mehr ausklammern, selbst wenn man sie nicht kennt. Sie haben stattgefunden.«
»Was man nicht kennt, kann man doch ohnehin nicht ausklammern, oder?«
»Vielleicht drücke ich mich nicht richtig aus. Ich will’s mal so sagen: Die Welt, mit der wir zu tun haben, ist, wie auch immer, die Summe all dessen, was sich ereignet hat, obgleich wir häufig nicht wissen, was das ist, oder sich herausstellt, daß etwas, von dem wir glaubten, es habe sich so und so abgespielt, sich in Wirklichkeit ganz anders zugetragen hat … und das, dieses Finden von etwas, was wir noch nicht wußten, oder dieses Korrigieren von etwas, was wir falsch wußten, ist die Arbeit von Historikern, jedenfalls von einigen: so komischen Pusselfritzen, die sich ihr ganzes sterbliches Leben lang mit einer einzigen Person oder einem Spezialgebiet befassen. Ich finde das unglaublich. Man kann natürlich fragen, hat das noch irgendeinen Einfluß auf den Lauf der Weltgeschichte? Nein, antwortet man dann. Und trotzdem, diese Zeit interessiert im Moment vielleicht niemanden mehr, aber in diesem seltsamen entlegenen Winkel Spaniens entschied sich damals tatsächlich das Schicksal Europas. Wenn diese paar verrückten Könige im Norden sich nicht dem Islam entgegengestemmt hätten, dann würden wir beide jetzt vielleicht Mohammed heißen.«
»Nix dagegen.«
»Nein.«
Arno dachte einen Augenblick nach.
»Sie hat übrigens etwas Arabisches, hast du das bemerkt?«
Arthur befand, darauf keine Antwort geben zu müssen.
Sein Freund war inzwischen verschwunden und kehrte mit einer Weinflasche und zwei Gläsern zurück.
»Hier. Verboten für uns Mohammedaner. Eine Beerenauslese, das Schönste, was es gibt.«
»Nicht für mich«, sagte Arthur. »Ich bin noch bis obenhin voll, und dann läuft dieser Tag schief.«
»Aber ist schief wirklich schief? Hier, sieh dir mal diese Farbe an, flüssiges Gold, Nektar. Weißt du, was Tucholsky gesagt hat? Wein müßte man streicheln können. Wunderbar. Na, komm schon. Mach dir diesen eigenartigen Tag zum Geschenk. Und
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