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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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die anderen starrten unverwandt nach vorn. Sie machten auf Arthur keinen angenehmen Eindruck. Der erste Mann im Vordergrund trug weiße Socken in großen hellbraunen Schuhen und hatte ein Kissen im Nacken, an das sich sein schon kahl werdender Schädel lehnte. Die Frau hatte einen roten Schal umgebunden und einen großen Hut aus Stroh, wie es schien, auf dem Kopf. Der andere Mann in der ersten Reihe verdeckte eine blonde Frau in blauem Kostüm. Ihr Gesicht war nicht zu sehen. Der lesende Mann trug einen blauen Schal vom gleichen Blau wie Victors.
    »Das bin ich«, sagte Victor. »Siehst du, wie unsere Schatten auf der Erde liegen?«
    Die Schatten begannen, sah Arthur, an den Schuhen und liefen, falls man von Laufen sprechen konnte, links aus dem Bild heraus. Aber nein, sie liefen nicht, sie lagen flach und eindimensional auf dem Boden.
    »Eigentlich sind Schatten grauslich«, sagte Arthur.
    »Was Sie nicht sagen.«
    »Was liest du?«
    »Haha.« Und dann, die zusammengekniffenen Augen etwas weiter geöffnet: »Dies ist das beste Bild, das je von der Ewigkeit gemacht worden ist. Das Buch da habe ich schon dreimillionenmal gelesen.«
    Die Tür ging auf, und ein bärtiger junger Mann kam herein und schrie: »Berliner Zeitung!«
    »Ist es schon so spät?« fragte Victor und winkte. Er kaufte gleich zwei Exemplare. »Dann hast du für eine Weile Ruhe vor meiner Beredsamkeit.«
    Es kam anders, denn sie hatten die ersten Hieroglyphen der Arbeitslosigkeit und des Börsenaufschwungs noch nicht buchstabiert, da sahen sie Otto Heiland, gefolgt von seinem Schatten. Otto war Maler, der Schatten sein Galerist, ein Mann von unendlicher Düsterkeit, der immer so aussah, als hätte man ihn gerade aus einem Sumpf gerettet. Alles an ihm schien zu triefen.
    »Sein ganzes Gesicht ist ein Stalaktit« (Victor), »alles hängt, der Schnurrbart, die nassen Augen, igitt. Da ist immer etwas faul, wenn der Galerist aussieht wie ein Künstler, besonders seit Künstler keine Uniformen mehr tragen. Ein Künstler muß aussehen wie ein Bankier am Sonntagnachmittag.«
    Wie die aussahen, wußte Arthur nicht, Otto jedenfalls wirkte immer wie ein Mensch, dessen Beruf man unmöglich erraten konnte. Schlicht war vielleicht das beste Wort dafür, nichts an seiner reservierten Erscheinung entsprach den geheimnisvollen, gemarterten Wesen, die seine Bilder bevölkerten.
    Victor kannte Otto schon seit vielen Jahren. »Und was glauben Sie? Das Wort Kunst ist zwischen uns noch nie gefallen. Und diesen Galeristen hat er meiner Meinung nach einzig und allein aus Mitleid.«
    »Liebe Freunde, die letzte Runde für die Küche, der Koch möchte nach Hause.«
    Plötzlich merkte Arthur, wie hungrig er war. Dieser Tag dauerte bereits viel zu lang.
    »Ich laß dir was Schönes machen«, sagte Philippe, »du siehst müde aus.«
    »Und geistesabwesend«, sagte Victor. »Er ist mit seinen Gedanken irgendwo anders. Er betrachtet sich selbst mit einem Cooke und schließt uns aus.« Cooke war eine bekannte Objektivmarke, es gab Tele-, Weitwinkel- und Zoomobjektive. Victor hatte einmal durch alle seine Objektive schauen wollen und danach nur gesagt: »So wird die Menschheit also betrogen.«
    »Nicht betrogen, sie bekommt nur mehr Augen.«
    »Wie Argus?«
    »Wie viele hatte der?«
    »Er hatte am ganzen Körper welche. Aber es nahm ein schlimmes Ende mit ihm.«
    Der Galerist hatte nach der Zeitung gegriffen und stöhnte. »Die Börsenkurse sind wieder gestiegen … wenn ich ein arbeitsloser Arbeiter wäre, dann würde ich alles kurz und klein schlagen.«
    »Was jammerst du da rum?« sagte Victor, »bei diesen ganzen Spekulationsgeschäften fällt für dich doch auch was ab, oder? Ich finde sowieso, daß ihr in letzter Zeit alle so viel klagt. Seit die Mauer weg ist, höre ich hier nur noch Gejammer, als stünde das ganze Land kurz vor der Pleite.«
    »Du hast leicht reden. Ihr seid nur ein kleines Mistland.«
    »Klein, aber fein.«
    »Ja, ja, klein, fein und arrogant. Ihr wißt immer alles besser.«
    »Das ist in der Tat ein ärgerlicher Charakterzug. Aber abgesehen von den Tomaten machen wir’s ja auch gar nicht so schlecht, glaube ich.«
    »Wenn es bei euch so gut ist, was tust du dann hier?«
    »Bitte, genau das meine ich. Gleich ›Ausländer raus‹. Gleich dieser beleidigte Ton. Kopf hoch, wir wissen alle, daß ihr das reichste Land Europas seid.«
    »Alles nur Neid.«
    »Na klar, aber was wurmt euch denn eigentlich so?«
    Arthur sah Otto an, der ihm zuzwinkerte. Er fand es

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