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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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herrlich, wenn sein Galerist ein bißchen geärgert wurde.
    »Was meinst du dazu, Philippe?« fragte Victor.
    »Mich darfst du nicht fragen. Ich habe französische Füße, deutsche Knie …«
    »O làlà.«
    »… und eine französische Zunge. Hier, probier das mal. Geht aufs Haus. Ein weißer Châteauneuf. Weißt du, wieviel Euro der kostet?« fragte er den Galeristen. »Es gibt doch noch gar keinen Euro. Und wenn’s nach uns geht, wird’s ihn auch nie geben. Wir werden unsere kostbaren Ersparnisse doch nicht einem Haufen griechischer und italienischer Strauchdiebe in den Rachen schmeißen. Und demnächst kommen die Polen und Tschechen auch noch dazu …«
    »Vor fünfzig Jahren wolltest du die doch noch so gerne dabeihaben!«
    »Herrschaften, dafür hab ich meinen kostbaren Tropfen aber nicht spendiert!«
    »Und außerdem hat er überhaupt keine Ersparnisse«, sagte Otto.
    Philippe goß noch einmal nach. Arthur wußte, was jetzt kam. Binnen einer halben Stunde würde Philippe den Seeräuberblick in die Augen bekommen, eine neue Flasche holen, und zwei Stunden später würden sie in dem geschlossenen Restaurant wie Kaperer dasitzen, die ein Schiff mit Goldschätzen geentert haben. Victor und Philippe würden Lieder aus Les Parapluies de Cherbourg singen, sogar Otto würde leise mitsummen, und der Galerist würde weinen.
    »Leute, ich muß los«, sagte Arthur und erhob sich.
    »Spielverderber!«
    »Er ist verliebt«, sagte Victor. »Und das in seinem Alter. Lebensgefährlich. Aber jeder folgt seinem Schicksal bis zum Ende.«
    Draußen war aus dem Wind Sturm geworden. Einen Moment lang dachte er, er könnte fliegen. Wie das wohl wäre? An all den hohen, mächtigen Häusern vorbei, nicht wie ein Vogel, sondern wie ein willenloser Gegenstand, ein Stück Papier, aufgenommen in das große Wehen, in das blasende, wirbelnde Geräusch, aller Worte dieses Abends ledig, zurück zu der früheren, so seltsamen und stillen Stunde, da jemand plötzlich vor ihm gestanden hatte in der Stille seines Zimmers, jemand, der ihn, dachte er jetzt, überwältigt hatte, der aber auch durch seine Vergangenheit gejagt und gestürmt war wie ein Orkan. Konnte das sein? In der kurzen Zeit? War jetzt etwas anderes angebrochen? An der Ecke Leibnizstraße konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Dieser Wind kam von der Ostsee oder von der Steppe irgendwo weit im Osten, von Ebenen, in denen man spurlos verschwinden konnte. Der Wind hatte alle Zweige in Peitschen verwandelt, die gegeneinander schlugen und dabei vor Schmerz wimmerten. Dieses Geräusch würde er noch die ganze Nacht hören.
    *
    Auf dem Falkplatz sind die Töne des Windes die gleichen, sind anders. Erst ist er über die frühere Leere des Todesstreifens gestürmt, hat dort Kraft gesammelt, schreit jetzt lauter und greift einen zu unbedeutenden Feind an, die verunglückte Anpflanzung, die dürftigen Überbleibsel guten Willens. Jetzt ist es eher ein Rauschen und Zischen, Elik Oranje hört es als scharfes Geflüster, als Klopfen und Rütteln an dem einzigen Fenster ihres Zimmers, als Orakel, die unverständlichen, heiseren Stimmen alter Frauen. Sie sitzt im Lotussitz in der Mitte des begrenzten Raums, weil sie sich konzentrieren will, und es gelingt ihr nicht. Ihre Gedanken gehen hin und her wie eine Windfahne und kehren doch jedesmal wieder zu drei ganz verschiedenartigen Überlegungen zurück, die sie alle unterzubringen versuchen muß: die Wahrheit über Liebhaber und Fehlgeburten ihrer Königin; die letzte Hegelvorlesung; und dieser Mann, der ihre Narbe auf eine Art berührt hatte, die intimer war als das Vögeln selbst.
    »So kannst du nicht denken«, sagt sie laut, und das stimmt, an jedem dieser drei Gedanken zieht sie jedesmal ein bißchen weiter, als ribbele sie einen Pullover auf. Und zugleich wiederholt sie sie, gebetsmühlenartig. Diese Narbe, die ihr gehört und nur ihr allein, der Augenblick des Feuers, der Schmerz, der Brandgeruch, der Mann, der seine Zigarette ausdrückt, herumdreht, während er sie mit seinem aggressiven Gewicht zermalmt, sie auseinanderreißt, der Alkoholgestank aus dem Mund, der Worte brabbelt, ihre Schreie, ihre Mutter, die torkelnd im Zimmer erscheint und sich mit beiden Händen an der Tür festhalten muß und zuschaut, das alles ist ihres. Meins, meins. Darüber kann nie gesprochen werden. Alle anderen Momente gehen verloren, dieser bleibt. Ist da. In dem Augenblick wurde die Verweigerung geboren. Damals, und immer noch. Wessen? Die

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