Allerseelen
passiert sein. Stell dir das jetzt mal auf dem Polder vor, dort geht so was nicht. Jeder würde es sehen. Erst Meer gewesen, dann trockengepumpt, kurz liegen gelassen, dann Häuser gebaut, bei denen man ungehindert durchs Fenster hineinschauen kann, nichts zu verbergen, keine Nebel, keine Geheimnisse, einfach ein Mädchen mit ihrer Puppe. Mädchen sind bei uns weiblich. Hast du je Goethe auf niederländisch gehört?«
Und daraufhin hatte er Goethe auf deutsch vorgetragen.
»Gib zu, das ist wundervoll.«
Auch jetzt war Victor ausgezeichneter Laune.
»Mich hat man aus dem Haus gejagt«, sagte er. »Aber was machst du hier? Wie sollen wir je zu unserer Portion Weltleid kommen, wenn du hier nur herumlungerst?«
»Ich geh ja schon«, sagte Arthur, »nächste Woche Afghasien. Wieso aus dem Haus gejagt?«
Victor wohnte allein, und es gab niemanden, der ihn aus dem Haus jagen konnte, es sei denn, er selbst. Er legte seine Hand auf die Zeitung und spürte die Form des Buches darunter.
»Buch versteckt?«
»Freilich.«
»Darf ich nicht sehen?«
»Es schläft noch.«
»Von wem?«
»Von mir.«
»Nein, das mein ich nicht. Wer hat es geschrieben?«
»Ah. Du darfst raten.«
»Kenne ich ihn?«
»Weiß ich nicht, aber er kennt dich.«
Arthur fischte das Buch unter der Zeitung heraus. Es war eine kleine Bibel. Er schlug sie an der Stelle auf, wo Victor das Lesezeichen hineingelegt hatte.
»Das geht reichlich weit«, sagte Victor, »aber wo du nun schon mal so dreist bist, mußt du das Rätsel lösen.« Er zeigte auf ein kleines Kreuz neben einer Zeile. »Verteil a es unter sieben oder unter acht; denn du weißt nicht, was für Unglück auf Erden kommen wird.«
»Das letzte verstehe ich«, sagte Arthur, »aber dieses sieben und acht? Meint er Menschen damit? Und was bedeutet dieses a ? Ich habe von so was nichts mitgekriegt.«
»Dann müssen Sie weiter schauen, als Ihre Nase lang ist. Das steht ein kleines Stück weiter. a 2. Kor. 9, 10.«
»Und dann?«
»Die hilflose Generation. Das schreit ja zum Himmel. Hast du schon mal was vom Apostel Paulus gehört?«
»Ja.«
»Also, das ist ein Brief vom Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth. Neues Testament. Ziemlich weit hinten. Zu deinem Geburtstag bekommst du von mir eine Bibel.«
Arthur schlug die Stelle auf und las leise, wollte dann den ersten Text wieder lesen. Er sah Victor fragend an.
»Wo stand das erste gleich wieder?«
»Prediger Salomo, elf, Vers zwei.«
Er schlug nach, wurde aber nicht schlau daraus. Ein Stück weiter waren einige Zeilen unterstrichen.
»Gleichwie a du nicht weißt, welchen Weg der Wind nimmt und wie die b Gebeine im Mutterleibe bereitet werden, so kannst du auch Gottes Tun nicht wissen, der alles wirkt. a Joh. 3, 8. b Ps. 139, 15-16.«
»Jetzt weißt du, wie’s geht«, sagte Victor. »Was steht da bei den Gebeinen?«
»Ein kleines b.«
»›Ein kleines b‹, sehr gut. Und was steht daneben?«
»Ps. 139, 15-16.«
»Der Psalter«, sagte Victor. »Nach Hiob und vor den Sprüchen Salomos. Man bringt euch ja nichts mehr bei. Früher mußte man das auswendig können.«
Arthur las.
»Bitte laut«, sagte Victor.
»Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde.
Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.«
Victor lehnte sich zurück.
»Jetzt willst du wissen, warum ich das lese, und ich rufe jetzt Philippe, damit er uns ein Glas Wein bringt, so daß ich keine Antwort zu geben brauche.«
»Du brauchst keine Antwort zu geben. Ich habe im übrigen auch nicht gefragt. Würde ich mich nie trauen. Aber das mit diesen Gebeinen und dieses ›als ich noch nicht bereitet war‹ …«
Ohne nachzudenken, hatte er die Karte in die Hand genommen, die Victor ihm wieder wegnahm und an derselben Stelle in die Bibel legte.
»Zeig doch mal. Das war doch was von Hopper?«
»Ja. In Bildern sind wir stärker als in Worten?«
Arthur kannte das Gemälde. Fünf Menschen saßen in einer strengen Anordnung auf Sonnenstühlen. People in the sun . Sie saßen neben einem Haus, dessen Fenster geschlossen schienen. Die Läden vor den Fenstern hatten dieselbe Farbe wie das gelbliche Strohfeld vor der Terrasse, auf der sie saßen. Hinter dem Feld eine Reihe niedriger, spitzer Hügel, vielleicht sogar Berge. In diesem Bild herrschte völlige Stille. Der hinterste Mann las,
Weitere Kostenlose Bücher