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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Verweigerung. Und jetzt hat ein anderer Mann mit seinem Finger ihre Narbe berührt, sie sanft umkreist, als könne sie heilen. Nein. Niemand hat sie berührt. Zärtlich, das Wort, das nicht genannt werden darf. Als wüßte er alles. Aber das ist unmöglich. Und dann wieder, als habe es damit etwas zu tun, das andere. Die Königin, von der sie immer mehr – und damit immer weniger – wußte, da jedes Faktum neue Fragen aufwarf. Die Frau von einst, wie sie sie manchmal nannte. Eine Frau, mit der sie sich verbunden hat und mit der sie trotzdem nichts zu tun haben darf, mit der sie sich unter keinen Umständen identifizieren darf, obwohl sie wußte, daß es bereits geschah; unzulässig. Nichts davon durfte durchscheinen in dem, was sie schreiben würde. »Knochentrocken« mußte es werden, und dennoch, je mehr sie las, all diese einander widersprechenden Stimmen, all diese Lücken, um so stärker war sie versucht, die leeren Stellen und Ungewißheiten mit Emotionen zu füllen, als sei sie es, die um ihr Königreich kämpfte, die geschlagen wurde, mißbraucht, die fliehen mußte und zurückschlug, Hilfe suchte bei anderen Männern; unverzeihlich war das, als schriebe sie einen Roman, ein schlechtes Märchen, in dem man die Wahrheit nach Belieben verdrehen konnte und sagen würde: »In diesem Augenblick dachte Urraca …«, während man nie und nimmer wissen konnte, was sie gedacht hatte. Es gab zehn Bücher über das höfische Leben jener Zeit, und trotzdem wußte man nichts, nicht, wie sie stanken, wie sie sprachen, wie sie liebten, alles, was man behauptete, war reine Spekulation. In einem Roman konnte man eine mittelalterliche Königin zum Orgasmus kommen lassen, aber war ein Orgasmus von damals mit einem von heute vergleichbar? Wie anders waren diese anderen, und dann wieder: wie gleich? Die Sonne kreiste erhaben um die Erde, die Erde war der Mittelpunkt des Kosmos, und der Kosmos lag geborgen in Gottes Hand, alles stimmte, die Welt war eingeschlossen in die göttliche Ordnung, und in dieser Ordnung hatte jeder seinen hierarchischen Platz, das alles war so unvorstellbar geworden, daß man es nicht mehr nachempfinden konnte, nicht einmal annäherungsweise. Aber gab es andererseits keine physischen Konstanten bei der Spezies Mensch, die es einem erlaubten, sich alles mögliche vorzustellen? Der Kreuzzug der Kirche gegen das Fleisch, wie man ihn auf romanischen Kapitellen sehen konnte, wo die Strafe für Wollust so sadistisch dargestellt war, daß es einem noch immer schlecht werden konnte, das, aber andererseits auch die schmachtenden Stimmen der Troubadoure, deren Geilheit mit Müh und Not durch Rhythmus und Reim im Zaum gehalten wurde.
    Sie wiegte sich hin und her. Ihre Magisterarbeit hatte sie über einen Essay von Krysztof Pomian, Histoire et Fiction , geschrieben, und an den Anfang hatte sie ein arabisches Sprichwort gestellt, das sie bei Marc Bloch gefunden hatte: »Menschen gleichen mehr ihrer Zeit als ihren Vätern.«
    »Das ist ja wohl eine Binsenweisheit«, hatte ihr Doktorvater gesagt, »und damit nur eine leere Phrase, aber es macht was her«, und dabei hatte er ihr natürlich die Hand auf die Schulter gelegt und sie so leicht gedrückt, daß man dazu nichts sagen konnte. Sie hatte die Hand wie einen fremden Gegenstand von ihrer Schulter genommen und dann losgelassen. Die Strafe war natürlich wieder bevormundende Ironie:
    »Noli me tangere.«
    »Wie Sie wollen.«
    »Gut, was ich sagen wollte: Auf dieses hochgestochene Gehabe kann ich verzichten. Wir studieren hier schlicht und einfach Geschichte. Spekulationen würde ich vorläufig den Koryphäen überlassen.«
    Männlichen Koryphäen, verstand sich, aber es war zu blöd, einen Kommentar dazu abzugeben. Männer ertrugen es im übrigen überhaupt nicht, wenn man ihnen widersprach. Das letzte Gespräch nach der Hegelvorlesung war auch nicht gerade glücklich verlaufen. Arno Tiecks wohltuende Begeisterung (»Ach, wenn du die Vorlesungen von Kojève über Hegel hättest hören können!«) hatte sie doch ein wenig angesteckt, doch die gequälten Sätze des großen Denkers blieben ein Problem für sie, und der näselnde Akzent des Vortragenden verschlimmerte es noch.
    »Er spricht genau wie Ulbricht«, sagte einer ihrer Kommilitonen. Ob das stimmte, wußte sie nicht, jedenfalls sah der Mann aus wie eine aufgetakelte Gurke, und auf eine Frage von ihr, die er offensichtlich sehr dumm fand, hatte er gesagt: »Ich bin darüber im Bilde, daß auf den höheren

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