Allerseelen
oder was davon noch übrig war, aus den Sarkophagen gerissen, die Inschriften zerstört, in diesen Särgen ist nichts mehr drin.«
»Hinten steht noch was drauf«, sagte Arthur.
Dann also doch. Sie drehte die Karte um. Plutarch, Lucianus. Jemand nahm sie offenbar für voll. Dieser Mann mit dem weit abstehenden Haar, den dicken Brillengläsern, dem Gesicht voller Hieroglyphen. Hegel, Napoleon, das Ende der Geschichte. Königinnen aus ihrem Grab reißen. Aber vielleicht gerade. Sie sah den Mann ihr gegenüber an, der sich wieder gesetzt hatte. Was konnten zwei so unterschiedliche Männer miteinander zu tun haben? Jenes andere Gesicht war voll beeindruckender Spinnweben, dieses hier sah aus, als wolle es möglichst wenig sagen. Und trotzdem hatte es gestern alles mögliche gesagt.
»Mach mal Musik«, sagte sie. Und als er aufstand, um unter den CDs etwas herauszusuchen: »Nein, nichts, was du jetzt für mich auflegst, irgendwas, was noch drin ist, was du dir selbst angehört hast.«
Es war das Stabat Mater von Penderecki. Worte konnte man nicht verstehen. Lang angehaltene Töne von dunklen Männerstimmen, Baritone, Bässe, erst später Frauenstimmen, argumentierend, wie aus der Ferne rufend, über die Männer hinweg fließend, flüsternd, agierend.
»Musik aus dem Totenreich«, sagte sie, »verirrte Seelen.«
Plötzlich Geschrei wie ein Peitschenhieb, dann geheimnisvolles Gemurmel.
»Wann hast du das gehört? Heute nacht, als du nach Hause kamst?«
»Als ich nach Hause kam, war ich betrunken.«
»Oh.«
»Ziehst du deinen Mantel nicht aus?«
Sie stand auf, zog ihren Mantel aus, und danach, während er zusah, sich nicht rührte, den Pullover, die Schuhe. Vor dem Fenster stehend, legte sie alle Kleidungsstücke nacheinander auf einen Stapel, bis sie nackt dastand, ganz still, und sich zu ihm umdrehte.
»Das bin ich«, sagte sie.
Die Narbe war violett in diesem Licht, doch das war es nicht, was seinen Atem stocken ließ. Sie hatte jetzt, durch ihre Nacktheit, eine völlig andere Funktion erhalten, stand auf der weißen Haut wie eine Schrift, ein Spruch, er mußte hin und sie berühren. Sie bewegte sich nicht, streckte die Arme nicht aus, spürte, wie er mit seinem Finger über diese Kerbe, diese Wunde strich, wie der Finger ihren Umriß erkundete, ein Mund. Eine Hand legte sie ganz leicht an seine Brust, und als er sich, schweigend, lautlos, ausgezogen hatte, schob dieselbe Hand ihn ebenso leise, aber gebieterisch, zum Bett, als wäre er jemand, der zu Bett gebracht werden mußte, die Hand drückte ihn rücklings auf die Matratze, in einer langsamen, fließenden Bewegung fühlte er, wie er rückwärts fiel, sah, wie sie über ihm erschien, sich auf ihn legte, die Narbe ganz nah an seinen Augen, wie sie ihn vollständig zu bedecken schien; später wußte er noch, daß sein Gefühl dabei eines der Bestürzung und der Ungläubigkeit gewesen war, als könne es nicht wahr sein, daß diese Frau ihn streichelte und küßte, als sei es nicht wahr, daß sie sich jetzt über ihn schob und ihn damit in Besitz nahm, ohnmächtig machte, nichts von diesen Handlungen schien mehr mit ihm zu tun zu haben, vielleicht hatte dieses Gesicht mit den geschlossenen Augen, vielleicht hatte dieser Körper, der sich in Ekstase immer weiter zurücklehnte, ihn ja vergessen, auf ihm ritt eine Frau, die etwas zu murmeln, zu raunen schien, eine Stimme, die sich mit dem Trauerchor der Musik vermischte, eine Stimme, die schreien würde und dann auch schrie, und im selben Moment, als sei es ein Befehl gewesen, kam er mit einem Schmerz, der, als müsse das so sein, sofort erstickt wurde, weil sie mit ihrem Kopf neben dem seinen auf das Kopfkissen schlug, noch immer murmelnd oder fluchend, flüsternd.
Erst viel später war sie aufgestanden, ins Bad gegangen, wieder zurückgekehrt. Er hatte mit einer Geste auf das Bett gedeutet, doch sie hatte den Kopf geschüttelt, er war aufgestanden und hatte die Arme um diesen schmalen Körper geschlungen, der bebte und erschauerte. Dann hatte sie sich langsam aus seiner Umarmung gelöst und sich wieder angezogen, und damals war wieder jetzt geworden, und auch er hatte sich angekleidet. Dies war noch immer sein Zimmer. Warum er das dachte? Weil er wußte, daß es nie mehr dasselbe Zimmer sein konnte. Sie setzte sich wieder ans Fenster, als müsse das Geschehene rekonstruiert werden. Gleich würde sie wieder all ihre Kleider ausziehen, vor seinen Augen würde wieder diese schreckliche Verletzlichkeit entstehen,
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