Allerseelen
Schulen in Holland Philosophie gar nicht oder nur wenig unterrichtet wird und vermutlich überhaupt keine deutsche Philosophie, aber Unwissenheit kann man auch übertreiben. Andererseits können Sie wahrscheinlich nicht viel dafür. Wie Heinrich Heine schon sagte: In den Niederlanden passiert alles immer erst fünfzig Jahre später.«
»Das ist dann wohl auch der Grund dafür, warum Mainz, Hamburg und Düsseldorf kein Heine-Standbild haben wollten und warum sogar noch 1965 Rektor und Senat ihre neue Universität nicht nach Heine benennen wollten und die überwiegende Mehrheit der Studenten auch nicht.«
»Sie wollen sagen, weil Heine Jude war?«
»Diese Schlußfolgerung überlasse ich Ihnen. Ich denke, es kam daher, weil Heine ein intelligenter Spötter war und daß man das hierzulande hundert – wie Sie wissen, sind das zweimal fünfzig – Jahre später noch immer nicht erträgt. Das Standbild, von dem ich gerade sprach, steht inzwischen in New York, in der Bronx. Dort fühlt es sich wahrscheinlich auch wohler. Und außerdem soll Heine das mit den fünfzig Jahren gar nicht gesagt haben.«
Wie ihre Frage gelautet hatte, wußte sie vor lauter Aufregung nicht mehr. Der Mann, den man hier noch mit Herr Professor ansprechen mußte, hatte versucht, sie mit einem vernichtenden Blick zu bedenken, die anderen Studenten hatten sich nicht eingemischt, und er war mit seiner nebulösen Exegese fortgefahren. Arno Tieck gegenüber hatte sie sich provozierend gegeben, das war ihr schon klar, und jetzt, hier, allein in ihrem Zimmer, kamen die Zweifel.
Was konnte man um Himmels willen mit dieser Wahnsinnsmenge an Wörtern anfangen, aus der einen manchmal ein Fetzen berührte, die aber gleich darauf einem versteinerten Gesetzbuch glichen und dann wieder einem fast religiösen Bestreben, alles stimmig zu machen, die utopischen Orgeltöne einer unbewiesenen Prophezeiung, eine Zukunft, in der irgendwann der Weltgeist, was immer das war, wenn sie es richtig verstanden hatte, sich selbst kennen würde, wobei dann alle Gegensätze, die die Welt im Verlauf der Geschichte geplagt hatten, aufgehoben wären.
Eine grauenvolle Vorstellung für sie. Fast ununterbrochen verspürte sie einen Widerstand gegen diese turmhohen Sätze, und dennoch war es schwer, sich dem Reiz mancher Formulierungen zu entziehen, als spräche ein Zauberer auf einen ein, ein Schamane, den man zwar nicht verstand, dem man sich aber auch nicht verweigern konnte. Das erging ihr nicht so, wenn diese aufgetakelte Gurke sprach, sondern erst später, wenn sie allein in ihrem Zimmer oder in der Bibliothek saß, wenn sie der Architektur dieser endlosen Sätze nachspürte, während sie sie unterstrich. Beim Unterstreichen hatte sie das Gefühl, sie zu verstehen, doch wenige Stunden später konnte sie schon fast nichts mehr davon wiedergeben, und dann blieb nur noch dieses Element des Religiösen, des Phantastischen übrig. Wie konnte jemand bloß denken, daß »Napoleon der restlos befriedigte Mensch war, der in und durch seine letztliche Befriedigung den Verlauf der historischen Entwicklung der Menschheit abschloß«? Was war denn nun abgeschlossen? Und trotzdem hatte sie das Gefühl, hinsichtlich dieser Worte sei es nicht gestattet, so zu denken; daß sie einfach irgend etwas nicht mitbekam und dadurch nicht in den Bann geschlagen werden konnte. Was hatte dieser Arno gleich wieder gesagt? »Spürst du denn nicht, daß Hegel für seine Zeit die Idee der Freiheit als erster begriffen hat und daß es in diesem Sinne tatsächlich das Ende einer Epoche war?«
Vielleicht, aber das bedeutete doch noch nicht das Ende der Geschichte? Denn gerade wenn man von diesem Moment an zum erstenmal ein Bewußtsein wirklicher Freiheit erlangt hatte, wenn diese Märchengestalten Herr und Knecht von der Bühne abgetreten waren wie in einem Theaterstück von Goldoni, dann war es doch doppelt schlimm, daß die Knechte ausgerechnet in der Stadt und in dem Land, in dem diese Worte erstmals ausgesprochen und niedergeschrieben worden waren, ihre eigenen Herren geworden waren und sich im folgenden von sich selbst in die Zwangsjacke einer noch viel schlimmeren Unfreiheit hatten zwängen lassen! Knechte, die sich ihre eigenen Herren aussuchten, um Knecht bleiben zu können, mit Herren, denen sie zwar ebenbürtig sein mochten, es aber nicht waren, welcher Verrückte hatte sich das ausgedacht! Der Betrug war nur noch größer geworden. Millionen waren für diesen Unsinn gestorben.
»Das ist nicht seine
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