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Allerseelen

Allerseelen

Titel: Allerseelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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und dann würde sich wieder zeigen, daß Verletzlichkeit ihn mit einer einzigen Bewegung überwältigen, niederwerfen, nehmen konnte, abwesend, anwesend, andere Gesetze, die er lernen mußte. Die Musik hatte aufgehört, sie stand auf und ging ziellos durchs Zimmer, wobei sie einige Gegenstände leicht mit der Hand berührte.
    Er hörte, daß sie außerhalb seines Blickfelds in einer Ecke des L-förmigen Raums stehenblieb, dort, wo sein Arbeitstisch stand.
    »Wer ist das?«
    Blind wußte er, worauf sie schaute. Das Foto von Roelfje und Thomas, das gleiche, das bei Erna am Fenster stand, nur kleiner.
    »Das ist meine Frau.«
    »Und das Kind?«
    »Das ist mein Sohn.«
    »Sind sie in Amsterdam?«
    »Nein. Sie sind tot.« Es gab keine andere Möglichkeit, diese Dinge zu sagen. Jetzt waren sie für einen kurzen Moment zusammen mit anderen in diesem Zimmer. Anderen?
    Er wartete, ob sie noch etwas fragen würde, aber sie sagte nichts mehr. Langsam ging er auf sie zu, sah, wie sie das Foto ins Licht hielt, vor die Augen führte. Das war kein Schauen mehr, sondern Studieren. Vorsichtig nahm er ihr das Foto aus der Hand und stellte es wieder an seinen Platz.
    »Möchtest du etwas essen?«
    »Nein. Ich muß gehen. Es ist nicht wie gestern, aber ich bin Weltmeisterin im Abschiednehmen. Für dich brauche ich mir keine Ausrede auszudenken.« Sie zögerte. »Bleibst du noch lange in Berlin?«
    »Bis zu meinem nächsten Auftrag.«
    Er dachte an die Nachricht vom NPS. Er mußte noch zurückrufen. Rußland, Mafia.
    »Aber vorläufig bin ich noch hier.«
    »Gut«, sagte sie. »Tschüs.«
    Sie hob ihren Mantel mit einem Finger hoch und war schon verschwunden. Weltmeisterin im Abschiednehmen. Er hörte ihre Schritte auf der Treppe, dann die Haustür. Jetzt war sie ein Teil der Stadt, eine Passantin. Er war nicht verrückt, sah aber, daß das Zimmer sich wunderte. Er war also nicht der einzige. Die Stühle, die Gardinen, das Foto, das Bett, sogar sein alter Freund, der Kastanienbaum, wunderten sich. Er mußte machen, daß er hier fortkam.
    *
    Es gab zwei Weinstuben, wo sie sich trafen, die von Herrn Schultze und die ihres Freundes Philippe, die von Victor »meine Außenstelle« genannt wurde, weil er hier fast täglich aß.
    »Philippe besitzt die angenehme Gabe des geistigen Radars, er erkennt, wenn ich in Schweigen gehüllt bin, und das ist eine ganze Menge für einen Bukanier.«
    Beides stimmte. Victor hatte zuweilen einen Kreis unsichtbarer Stille um sich, wenn er über etwas brütete, und Philippe sah aus wie ein Seeräuber aus Saint-Malo. »Nein, wie einer der drei Musketiere«, hatte Vera gesagt, und auch daran war etwas wahr.
    »Das leicht Traurige kommt daher, weil er die beiden anderen vermißt.«
    An diesem Abend jedoch war Philippe fröhlich. Er umarmte Arthur, der das bei fast keinem ertrug, und sagte: »Victor sitzt hinten.« Und im gleichen Atemzug: »Was ist mit dir passiert? Du siehst aus, als hättest du eine fliegende Untertasse gesehen.«
    Das war’s, dachte Arthur. Eine fliegende Untertasse. Er ging nach hinten. Victor würde jetzt erst so tun, als bemerke er ihn nicht, die ohnehin schon zusammengekniffenen Augen würden sich noch weiter zu Schlitzen verengen, eine besondere Art von Kurzsichtigkeit vortäuschend, die in große Überraschung münden würde. Arthur sah, daß Victor ein Lesezeichen in das Buch legte, in dem er gelesen hatte, und eine Zeitung darüber breitete.
    »Ach! Sie da.«
    Das alles war völlig vorhersagbar. Sie hatten es nie offen geäußert, doch Arthur wußte, daß sie es beide genossen, von Zeit zu Zeit niederländisch sprechen zu können.
    »Eine wunderbare Sprache«, hatte Victor einmal zu Arno gesagt. »Das hättet ihr so lassen müssen. Wie’s jetzt ist, habt ihr hier etwas Merkwürdiges daraus gemacht. Und manchmal auch etwas zu Lautes. Das kommt natürlich durch all die Hügel und Täler, die ihr habt, da schallt es mehr. Sieh mal, wir sind flach, das ist einerseits natürlich etwas oberflächlicher, aber es schenkt auch mehr Klarheit. All diese verborgenen Höhlen, Lichtungen, Hänge mit dazugehörigen Wäldern – da bekommt man natürlich die Nibelungen, druidische Dichter und Schriftsteller wie Hohepriester. Davor muß man sich in acht nehmen. Das gibt es nicht bei Ostwind auf dem Polder. Nimm doch mal Mädchen, das Wort, meine ich. Ihr sagt: das Mädchen, sein … das Mädchen hat seine Puppe verloren. Gib zu, daß das eigenartig ist. Mit diesem Mädchen muß etwas ganz Schlimmes

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