Alles auf Anfang Marie - Roman
machen? Ich kann die Sprache nicht …«
»Ich weiß«, sagte er bedrückt. »Es würde eine großeUmstellung sein, für uns beide. Aber wir sind nicht die Einzigen. Es gibt da viele westliche Manager, die ihre Familien mitnehmen. Wir könnten neue Bekannte finden. Hey, vielleicht gibt es dort sogar inzwischen einen Club.«
Wo er dann regelmäßig hingehen würde, und ich säße zu Hause und sortierte die Essstäbchen? »Henning, das kommt jetzt etwas plötzlich.«
»Ich weiß«, sagte er. »Ich hatte auch nicht damit gerechnet. Wir wollten eigentlich jemand anders schicken, aber seine Frau hat viel zu früh ihr Kind gekriegt, und das liegt jetzt in der Uniklinik und kämpft um sein Überleben. Da hat er abgelehnt. Schade, aber verständlich.«
Ablehnen. Endlich eine Vokabel, die eine Alternative bot zu der Schreckensvision von tausenden von schlitzäugigen Menschen auf Fahrrädern, unter denen ich als Fremde herausstach wie ein Albino. »Kannst du da denn nicht auch absagen?«
»Theoretisch schon«, sagte er. »Aber …« Und dann folgte eine sehr komplizierte Darstellung firmeninterner Personalien, die ich nicht ganz nachvollziehen konnte. Ich verstand nur die Quintessenz: Henning war der Mann der Wahl. Das ehrte ihn. Mich versetzte es in spontane Panik. So als wäre Dr. Sondermann der Pate, der ihm ein Angebot machte, das er nicht ablehnen konnte.
»Hast du etwa schon zugesagt?«, fragte ich entsetzt.
Er sah mich gekränkt an. »Marie, das würde ich doch nicht ohne Rücksprache mit dir tun!«
»Also haben wir schon noch etwas Zeit, um darüber nachzudenken?«
»Natürlich. Du musst dich doch überhaupt erst mal mit dem Gedanken befassen. Ich habe dir schon mal ein bisschen Infomaterial mitgebracht, das kannst du dir in Ruhe ansehen.«
Nun war da ein gewisser Unterschied zwischen »entscheiden«und »mit dem Gedanken befassen«, aber ich beschloss, das für heute auf sich beruhen zu lassen. Immerhin konnte ich feststellen, dass auch Henning nicht gerade mit ungebremstem Enthusiasmus über diese Geschichte sprach.
Schon allein ihm zuliebe setzte ich mich nach dem Essen mit der Infomappe aufs Sofa und sammelte erste Kenntnisse über diesen Ort, an dem über 30 Millionen Menschen lebten und von dem ich noch nie in meinem Leben gehört hatte. 30 Millionen, das waren 29 Millionen und neunhundertachtzigtausend mehr als in unserer Stadt. Und das Ganze in einem subtropischen Monsunklima. Wörtlich stand da: »Es regnet in Chongquing also fast doppelt so viel wie in Deutschland.« Na super, wo doch schon alle Freunde, die in anderen Regionen lebten, uns wegen des Regens im Sauerland bedauerten.
Immerhin schneit es in Chongqing nur selten. Ich blätterte weiter, weil ich fair sein und nicht allein aufgrund der Wetterinformationen negative Voreinstellungen entwickeln wollte. Die nächste Seite trug die Überschrift »Fakten« und zählte nicht nur – damit man es nicht vergaß – die jährliche Niederschlagsmenge von 1400 Millimeter auf, sondern auch schwerpunktmäßig die Namen der Landkreise, die zum Verwaltungsgebiet gehörten. Staunend las ich, dass nicht nur so wohlklingende Namen wie Liangping, Rongchang, Tongliang, Tongnan, Yunyang, Wulong oder Zhong darunter waren, sondern dass es zum Beispiel auch den autonomen Landkreis Pengshui der Miao-Minderheit gab. Wäre das Thema nicht so einschneidend für unser Privatleben gewesen, hätte ich dem durchaus etwas Erheiterndes abgewinnen können, zum Beispiel die Frage, ob es Feng-Shui in Pengshui gab und welche Geräusche die Katzen der Miao-Minderheit machten.
»Sag mal, woher hast du diese Unterlagen?«, fragte ich Henning, der selbst irgendwelche wichtig aussehenden Dokumente studierte.
»Die hat die Praktikantin aus dem Internet gesucht«, sagte er. »Warum? Stimmt was damit nicht?«
»Das will ich nicht sagen«, erwiderte ich. »Warst du schon mal in Zhong?«
»Wo?«, fragte er irritiert zurück.
»Zhong. Das ist ein Landkreis, genau wie Fengdu. Oder Youyang. Es könnte aber auch sein, dass sie versehentlich die Liste der Namen abgeschrieben hat, die Michael Ende für einen neuen Roman gesammelt hatte.«
»Ich konnte mich darum nicht selber kümmern«, knurrte er, ohne dem Ganzen etwas Witziges abgewinnen zu können. »Dafür habe ich augenblicklich wirklich keine Zeit.«
»Schon klar«, sagte ich und wechselte zum nächsten Blatt mit der Überschrift »Reisen«. Na endlich! Wenn sich da nichts Interessantes über Chongqing
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