Alles auf Anfang Marie - Roman
ärgerte mich auch schon wieder. So als wären meine Wechseljahre bloß Pillepalle im Vergleich zu den Dingen, mit denen sich wichtige Menschen wie er herumschlagen mussten. Vielleicht war ich bereits in einen Teufelskreis geraten – egal in welchem Zusammenhang das Reizwort gebraucht wurde. Würde ich jetzt immer mit den Stimmungsschwankungen darauf reagieren, die ihm zugeschrieben wurden und die ich eigentlich an mir nicht haben wollte?
»Was hast du denn für Probleme?«, fragte ich mit einem angriffslustigen Unterton.
»Freu dich nicht zu früh«, gab er in ähnlichem Tonfall zurück. »Genauer gesagt sind es nämlich unsere Probleme. Ich hatte gestern ein Gespräch mit Dr. Sondermann.« Das war einer der obersten Bosse, wie ich wusste. »Und der möchte, dass ich die Verantwortung für den Aufbau eines neuen Produktionsstandortes übernehme.«
»So ähnlich wie damals, als du das Werk in Thüringen aufgebaut hast?« Ich erinnerte mich noch gut, dass dieses Projekt mit einer Menge Stress verbunden gewesen war, letztlich aber für Henning zu einem großen Erfolg wurde, inklusive Beförderung und erfreulicher Gehaltserhöhung.
»Ja, so ähnlich. Nur ein paar Nummern größer und deutlich weiter nach Osten.«
Mir schwante Übles. »Wo genau?«
Er legte sein Besteck beiseite. »Chongqing.« Seine Lippen bildeten einen einzigen schmalen Strich.
Ich hatte erwartet, dass er »Kattowitz« sagte oder »Kiew« oder irgendetwas, das mir wenigstens vage bekannt vorkam. Aber Tschonking oder wie auch immer – das hatte ich noch nie gehört. Es hätte genauso gut eine neue amerikanische Sportart sein können. »Wo ist denn das?«
»Das ist ziemlich genau in der Mitte von China. In der Nähe des Drei-Schluchten-Dammes, das sagt dir doch sicher was.«
Allerdings, das erinnerte mich sofort daran, dass es sich bei diesem neuerdings so interessanten Wirtschaftsstandort immer noch um ein Regime handelte, das wenig Rücksicht auf die Interessen seiner Bevölkerung nahm. »Also noch mal langsam zum Mitschreiben. Die wollen, dass du nach Zentralchina gehst und dort für sie eine Fabrik einrichtest? Über was für ein Projekt reden wir da?«
Er seufzte und schob die Sachen auf seinem Teller hin und her, ohne mich anzusehen. »Es geht um eine Produktionsstätte für die Herstellung und Montage von Metallteilen, in der wir etwa zweitausend Leute beschäftigen werden.«
Oha. Das klang umfangreich, auch wenn ich von solchen Projekten wenig Ahnung hatte. »Und wann geht das los?«
»Ziemlich bald. Ich war doch neulich mit ein paar Leuten drüben und habe mögliche Standorte angesehen. Jetzt haben wir uns für einen entschieden. Wenn alles klappt, fliegt Dr. Sondermann nächste oder übernächste Woche rüber und macht die Verträge fertig. Und dann wird gebaut. Das geht da alles recht schnell.«
»Ja, den Eindruck hat man«, murmelte ich. So ganzhatte ich noch nicht erfasst, was das bedeutete. »Und was ist dabei deine Aufgabe? Musst du diese Fabrik konzipieren und immer wieder dahin, um die Fortschritte zu überwachen?« Da würde er ja Meilen ohne Ende sammeln. Vielleicht könnte er dann endlich die ganzen Ken-Follett-Romane lesen, die er sich immer kaufte und nie in einem Urlaub durchkriegte.
»Nicht immer wieder, Marie.« Er hob den Kopf und sah mich an. »Ich werde dort bleiben müssen. Für mindestens zwei Jahre, wenn nicht drei.«
»Drei Jahre?«, wiederholte ich etwas konsterniert. »Du willst für drei Jahre nach China gehen?«
»Müssen, nicht wollen.« Sein Blick wurde noch intensiver. »Marie, ich möchte, dass du mitkommst.«
So, nun war es auf dem Tisch. Ich musste unwillkürlich schlucken. Nach China für zwei bis drei Jahre? Das waren Sachen, die ehrgeizige alleinstehende Jungingenieure machten, abenteuerlustige Karrierehengste, aber doch nicht gestandene Männer, die ihre Pensionierung quasi schon am Horizont erkennen konnten und deren Silberhochzeit bereits abgefeiert war. Oder?
»Nach China mitkommen? Irgendwohin, wovon ich noch nie gehört habe?«
»Letztlich ist es doch egal, ob Chongqing oder Peking«, sagte er. »Es ist immer fremd. Aber wenn ich das mache, dann muss ich auch vor Ort sein. Da gibt es keine verlängerten Wochenenden, da wird rund um die Uhr gerödelt. Und deshalb könnte ich auch nicht alle naslang nach Hause kommen. Marie, das funktioniert nur, wenn du mitgehst. Ich kann mir das ohne dich nicht vorstellen.«
»Aber … wie soll das denn … was soll ich denn da
Weitere Kostenlose Bücher