Alles auf Anfang Marie - Roman
gefunden, der sich vor Smog, offenen Frauen und 30 Millionen Chinesen auf engstem Raum nicht fürchtete.
Ja, so eine Version würde ich gerne nehmen. Mal schauen, was Dr. Göbel dazu sagen würde.
Also fuhr ich mit sehr gemischten Gefühlen nach Bredenscheid. Ich überreichte der Mitarbeiterin an der Rezeption brav alles, was sie brauchte: Überweisung, das Kärtchen und das Bargeld, mit dem ich die wirklich relevanten Untersuchungen zukaufte. Wie immer wurde ich dann zunächst ins Wartezimmer geschickt, wo ich hoffte, zwischen den Lesezirkel-Zeitschriften irgendwas zu finden, was sich nicht auf Fürstenhochzeiten und die Probleme der Fernsehstars reduzierte. Das könnte ich schließlich auch bei Nicole Nowakowski kriegen.
Dieses Mal hatte Dr. Göbel uns zwei GE O-Hefte spendiert. Eins davon hatte einen Schmetterling auf dem Titel, was mich an den folgenreichen Abend mit Freund Büdenweis erinnerte. Spontan griff ich nach dem anderen und nahm zwischen mehreren Frauen in unterschiedlichen Stadien der Schwangerschaft Platz. Wenn man das sosah, würde Deutschland nicht aussterben, vielleicht jedoch die deutsche Sprache, so wie ich sie gelernt hatte. Zwei der Frauen trugen die typischen chiffonartigen Kopftücher über ihrem Dutt, die man bei frommen Russlanddeutschen findet. Die anderen beiden stammten eher aus dem südosteuropäischen Ausland.
Als ob Dr. Göbel es geahnt hätte, war ein Schwerpunktthema meines Heftes der Bau des Drei-Schluchten-Staudamms in China. In der Nähe von Chongqing, versteht sich. Der Verfasser hatte eine Schiffsreise dort gemacht und konnte mit absolut eindrucksvollen Fotos aufwarten, von denen natürlich keins eine Smogdecke zeigte, sondern nur tolle Landschaft und fremdartige Kultur. Tja, was wollte mir das sagen? War das jetzt der Ausgleich zu meinen Horror-Texten von gestern Abend?
Bevor ich den Artikel zu Ende gelesen hatte, wurde ich aufgerufen und durfte mich zunächst mal noch voll bekleidet in Dr. Göbels Sprechzimmer begeben. Hennings Club hatte sehr bedauert, dass er nicht bei ihnen, sondern in Bredenscheid Mitglied wurde, denn Ärzte wurden immer gern genommen. Mir hingegen war es lieber. Man begegnet doch nicht so gern bei feierlichen Anlässen einem Mann, der genau weiß, wann und wie man seine letzte Pilzinfektion überstanden hat.
»Frau Overbeck!«, sagte er jovial und schwenkte meine Karteikarte. »Wie geht es Ihnen?«
»Bis jetzt gut«, sagte ich und dachte mit schlechtem Gewissen an meine zweifelhaften Gedanken. »Bis auf die üblichen Sachen, die Frauen in meinem Alter so befallen.«
»Sie wissen, dass man da mit Hormonen sehr gut was machen kann?«, fragte er zurück. Das Thema war mir vertraut. Mein ganzer Bekanntenkreis war in zwei Lager gespalten: diejenigen, die Hormone für das Nonplusultrahielten, und die mahnenden Stimmen, die sie für alles Übel der Welt verantwortlich machten.
»Ich finde, dass keine Frau sich einfach den Schikanen der Wechseljahre hilflos ausgeliefert sehen muss«, fuhr Dr. Göbel fort. Das hatte er doch schön gesagt. »Nicht nur die körperlichen Symptome, auch die Stimmungsschwankungen, die Niedergeschlagenheit, die übersteigerte Reizbarkeit – das lässt sich alles in den Griff kriegen.«
»Sieh mal an«, staunte ich. »Wirkt das auch bei den dazugehörigen Männern?«
»Ha, ha«, schmunzelte er wohlwollend. »Es ist natürlich Ihre Entscheidung, Frau Overbeck. Haben Sie den Eindruck, dass Sie in letzter Zeit oft psychisch angeschlagen sind?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Das ist schwer zu beurteilen für mich selber. Klar bin ich manchmal etwas deprimiert, wenn ich so mitkriege, wie ich älter werde. Aber das hat wohl auch damit zu tun, dass ich augenblicklich vor Entscheidungen stehe, die nicht so einfach sind.«
Die ganze Zeit kritzelte er etwas auf meine Karteikarte. Ich hätte gern gewusst, ob es eher medizinischer Fachjargon war oder ob er sich notierte, dass ich eine weinerliche Hypochonderin war. Jetzt zog er eine Broschüre aus der Schublade und reichte sie mir zusammen mit einem Privatrezept. »Ich habe Ihnen mal ein sehr gutes Präparat aufgeschrieben. Lesen Sie sich dieses Heftchen in Ruhe durch und entscheiden Sie sich dann, ob Sie das Rezept einlösen möchten oder nicht.« Das Heftchen stammte von einem namhaften Pharmakonzern, insofern konnte ich mir denken, wie ausgewogen die Informationen waren. Aber wenn Dr. Göbel mir das Zeug verschrieb, dann war er schließlich daran schuld,
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