Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
auch?!
Krank vor nervöser Besorgnis wischt Otto sich die Tränen aus dem Gesicht, trotzig angetrunken und in einer jämmerlichen Verfassung, so wie Gott ihn schuf, wobei Schweißtropfen über seine Brust laufen und im Gestrüpp seiner Scham versickern.
Endlich, endlich schweigen die Sirenen, endlich zieht der Dämon seine Krallen ein.
Und er erinnert sich.
Damals geschah es, damals, als sie im Treck auf der Flucht waren und von russischen Tieffliegern beschossen wurden, als er dieses vermaledeite Lied auf der Mundharmonika spielte und noch ein Lied und noch eines und es waren allesamt russische Lieder, die nach Wodka, Puszta und Sauerkrautsuppe rochen. Abendglocken , Vetsherni zvon , hieß eines und Wolgaschlepper, Ey ukhnyem , ein anderes. Wieso, zum Teufel, erinnert er sich an die russischen Titel, warum sind sie so eingebrannt?
Es war, nachdem der Ruf Die Russen kommen durch das Dorf gehallt war, als sich die Luft mit dem Rauch der brennenden Häuser schwängerte und das Klirren von Schaufensterscheiben für ein tragisches Echo sorgte, als sie, die Flüchtlinge, wie Kaninchen sind, die in ihren Bau huschen, als sie sich in einer Waschküche verstecken, ein schlechtes Versteck, gewiss, nur ein gefliester Raum, den man nicht mal verschließen kann, ein fadenscheiniger Schutz, aber allemal besser, als draußen vor der Tür auf die Jäger zu warten, sich zu ergeben, von ihnen abschlachten, zuweilen, was noch schlimmer war, sich benutzen zu lassen.
Und dann ist da der Soldat, der mit dem Gewehr im Anschlag die Stufen herunter gestapft kommt. Der junge Otto nimmt zuerst die lehmigen Stiefel wahr, danach den braunen Mantel, dreckig wie eine Pferdedecke, ein flaches Gesicht ohne Konturen, eine Mütze mit Ohrenklappen - wenn es eine Sprache des Antlitzes gibt, dann brüllt dieses Antlitz Otto mit ohrenbetäubender Lautstärke an, der vor Angst zittert und bebt und pinkeln, dringend pinkeln muss! -, und der Soldat schnappt sich Muttel und Lotte, um mit ihnen wer weiß was zu tun, aber vorher, sozusagen als Aperitif des Grauens, schlägt er einem fremden Alten, der sich schon hinter den Waschzuber gekauert hatte, bevor die Jäckels diesen Unterschlupf fanden, den Gewehrkolben auf den Schädel, bis dem Ärmsten das eigene Gehirn aus den Ohren und an den Waschzuber spritzt. Otto weiß: am Tage suchen sie diejenigen zur Verschleppung, alte Männer werden getötet, am Abend Frauen zum Vergewaltigen, und dabei machen sie auch vor alten Frauen nicht Halt, wie Muttel immer wieder erzählte. Es ist später Nachmittag und das mag ein Glück für Muttel und Lotte sein.
Der Soldat, der Otto wie ein Erwachsener erscheint, obwohl er nicht viel älter ist als achtzehn oder neunzehn, nimmt die Jungs über die Kimme ins Visier, krümmt den Zeigefinger am Abzug und Piefke und Otto, die nebeneinander auf dem Boden hocken, starren gemeinsam in den Lauf, in diese schwarze, diese unendliche Tiefe, aus der die Kugel herausstürmt, die einen, mit etwas Glück, schmerzfrei tötet, noch bevor man den Schuss vernimmt. Otto hat sich das oft ausgemalt. Wappnet sich. Es wird einfach dunkel. Schluss, Ende, Aus! Nix mehr ...
Einer impulsiven Eingebung folgend zieht Otto aus der Gesäßtasche seiner löcherigen Hose eine Mundharmonika, die er bei sich trägt wie einen Talisman, ein verbeultes Instrument, das ihm ein Landser auf Heimaturlaub vor dreizehn Monaten als Geburtstagsgeschenk – Otto war elf Jahre alt geworden - zugesteckt hatte, ein Mann mit buschigen Augenbrauen und eingefallenen Wangen, der Muttel einiges über Vater zu berichten wusste. Oh ja, manchmal hatte Otto das Ding verflucht, immer wenn er sich draufsetzte und das Instrument sich in seinen Popo bohrte wie ein in der Hosentasche vergessener Ast, mit dem man Löcher in einen Ameisenhaufen stochern kann. Andererseits begeistert ihn der Trost spendende Klang der Mundharmonika, die er spontan zu spielen vermochte, und dafür nimmt er etwas Popopieksen gerne in Kauf.
Es war fast schon ein Wunder ...
Warum drückte der Soldat nicht ab, als Otto nach der Mundharmonika griff?
Und ganz still, ganz verhalten, während der Lauf des Gewehres auf ihn und den kleinen Piefke weist, während Tränen der Furcht aus seinen Augen strömen und seine Nase läuft, spielt er eine russische Weise, die er während der Monate ihrer Flucht aufgeschnappt hat, Abendglocken, beinahe meisterlich spielt er sie und der Russe lässt das Gewehr sinken und legt den Schädel schräg und mustert den kleinen Otto
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