Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
dem anderen zu. Jeder brüllt den andern nieder, es gibt keine Gespräche und sogar Papa, der sonst immer sehr klug ist, hat dann kleine feuchte Augen und seine Worte sind undeutlich. Zwar ist er vorwiegend freundlich, aber seine Sätze haben nicht so viel Inhalt wie sonst, sondern ähneln mehr dem, das Uwe, Micha oder Georg von sich geben - gequirlte Kacke!
Aus heiterem Himmel lachen dann alle und jemand erzählt einen Witz und ein anderer wird Tom die Ohren zuhalten, damit er nichts mithört, was nicht klappt, weil sowieso alle viel lauter reden als sonst.
Erwartungsgemäß rücken die Besucher die Mitbringsel raus und Tom freut sich wie ein Schneekönig. Falk und Spiderman . Und dieses Mal wird Papa ihm die Hefte lassen. Er bedankt sich artig, worauf Papa und Mama Wert legen, schön einen Diener machen, dem Gegenüber in die Augen schauen, ein Kuss hier, ein kräftiger Händedruck dort, ein kleiner erwachsener Mann, was sonst. Man muss gutes Benehmen haben, nur so bringt man’s zu was im Leben.
Ein Wunder, dass Mama ihn heute nicht umgezogen hat. Den dunklen Anzug mit der Hochwasserhose und das gute weiße Hemd, den besonderen Kram, den er immer anziehen muss, wenn die Familie Sonntag nachmittags spazieren geht, die Schuhe blitzblank gewienert, den Scheitel schön mit dem Kamm gezogen. Sie ist heute sowieso komisch. Und das nicht nur, weil ihr Geburtstag ist. Die Sache mit Ottilie, die er Lile nennt, wird ihr schwer auf der Seele liegen. Tom könnte weinen, wenn er an seine Schwester denkt, daran, wie sie in der Küchentür stand, blutend, wie teilnahmslos sie war, als Mama ihr die Arme verband, wie sie vor sich hingestarrt hatte, als sie im Krankenhaus zurückblieb, so einsam, so klein irgendwie, ganz verloren. Gar nicht wie sonst, wenn sie ihre große Klappe hat und sich mit Tom streitet, wenn sie ihm Klapse auf den Hinterkopf gibt und ihn mit irgendwelchem Gerede nervt, typischer Mädchenkram. Er vermisst sie so sehr.
»He, wenn du das Heft durchhast, kannst du es mir ja mal leihen«, sagt Onkel Piefke und grinst.
Onkel Rudi, den alle Piefke nennen, und Tom in Gedanken auch, Onkel Piefke also, den Tom sehr leiden mag, benimmt sich manchmal, als wäre er nicht viel älter als Tom und als hätte er Lust, die Füße auf den Tisch zu legen und Tom auf den Rücken zu klopfen. Onkel Piefke ist absolut knorke. Er hört Musik, die Tom bei einem Besuch vor einem Jahr bei ihm kennen lernte, er besitzt einen Lautsprecher, so groß wie ein Schrank. Onkel Piefke hat Tom einiges dazu erklärt und eine Menge Musikernamen genannt. Diese Musik ist der Wahnsinn, harte Gitarrentöne, laute Stimmen. Als Tom diesen … Beat?, also diesen Beat das erste Mal hörte, hat er eine Gänsehaut gekriegt, so toll faszinierend fand er das.
Später erscheint Oskar, weich und dick wie eine Kugel aus Mausespeck, überhaupt nicht so, wie man sich einen Bergmann vorstellt. Sein runder Oberkörper ist in ein weißes Hemd gequetscht, der Schlips hängt schief, die Hose ist beulig, Oskar hat die Haare glatt und fettig zurückgekämmt, ein schmaler Streifen, der die Stirn teilt, links und rechts davon Geheimratsecken. Da gibt es ein großes Hallo!, und alle prosten sich zu. Oskar erzählt gerne Witze und lässt so manch einen vom Stapel.
»Schreibt ein Jude einen Brief an sein Weib: ’Teure Riwke, sei so gut und schick mir Deine Pantoffeln! Natürlich meine ich meine und nicht deine Pantoffeln. Aber wenn Du liest meine Pantoffeln, dann meinst Du, ich möchte Deine Pantoffeln. Wenn ich aber schreibe: Schick mir Deine Pantoffeln, dann liest Du Deine Pantoffeln und verstehst richtig, dass ich meine: meine Pantoffeln und schickst mir meine Pantoffeln. Schick mir also Deine Pantoffeln!’«
Da lacht sogar Tante Regina, die sich sonst über irgendwelche politischen Witze, die auf Kosten von anderen Menschen gehen, ziemlich aufregt.
Jetzt reden sie über einen Mann, der Schotterbein heißt und Oskar sagt: »Alle Zähne sollen dem Arschgesicht aus’m Hals rausfallen! Nur einer soll im Maul bleiben: fürs Zahnweh!« Obwohl Oskar dabei zornig aussieht, lachen sich alle schlapp.
So vergeht der Nachmittag, es gibt Torte und Erdbeerkuchen und alle gähnen und reiben sich die Augen, also muss ein Erweckungstrunk her. Schnaps, Likör, Wein und Bier. Tom wird geschickt, Nachschub unter der Bodentreppe her zu besorgen und Leergut wegzubringen, was er gerne macht, dann endlich kann er sich in sein Zimmer verziehen, wo er alleine ist und Ottilie vermisst.
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