Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
Einzelheiten notiert, brisante Dokumente. Dies wurde weder bestritten noch bestätigt, sondern im Sinne der Dorfgemeinschaft totgeschwiegen. Interessant und vieldiskutiert waren die Geburts- und Todesdaten.
Durch den Fund der Aufzeichnungen erfuhr Cemir seinen genauen Geburtstag, sogar die Geburtsstunde.
Cemir Cülcze war am 10. November um kurz nach Mittag geboren worden.
Kemal Cülcze rief Frau und Kinder um den großen Tisch, goss sich einen Anisschnaps ein, den er gewissenhaft mit Quellwasser und einer Olive mischte, hob die Löwenmilch feierlich, prostete der ob seiner guten Laune völlig aus der Fassung gebrachten Familie mit einem kräftigen Scherefe zu und sprach: »Mein Sohn will ein Gelehrter werden. Nun – ich für meinen Teil meine, er ist ein guter Bauer. Aber Allah hat uns ein Zeichen gesandt. Cemir wurde am zehnten November geboren, dem Todestag vom Vater der Türken, unseres großen Kemal Atatürk, dessen ersten Namen ich seit Geburt teile, ein Vorrecht, auf das ich stolz bin! Damit nicht genug: Allahs Hand wies auf meinen einzigen Sohn. Kismet!«
Cemirs Schwestern kicherten. Alberne Hühner!
»Allah ließ Cemir in jener Stunde auf die Welt kommen, in der unser ehrwürdiger Kemal Atatürk von uns ging. Atatürk wollte, dass Kinder eine Schulausbildung erhalten und man mag darüber denken, wie man will ... sein Wille soll sich erfüllen.«
Nach dieser feierlichen Rede brach Mama Aiche zusammen, die Töchter trösteten die von Rührung übermannte und Cemir wurde auf eine Schule geschickt. Papa Kemal verkaufte zwei Hammel. Damit Cemir nicht täglich stundenlang hin und her reiten musste, sondern diese Zeit zum Lernen nutzen konnte, brachte man Cemir bei Onkel Murat unter, der seinen Teil Geld verlangte und erhielt.
Cemir war ein fleißiger Schüler. Er träumte davon, eines Tages in Istanbul zu studieren.
Alle die Jahre über vermutete Cemir, dass sein Vater in Sachen Schule irgendwann seine Meinung geändert haben musste und nun einen Grund benötigte, um vor seiner Frau und seiner Familie die Autorität nicht zu verlieren. Auch wenn der Tod von Atatürk erst Tage später ins Dorf gemeldet worden war, man sprach von Leberzirrhose, doch nicht wenige meinten, er habe Selbstmord begangen, musste es doch ein Leichtes gewesen sein, einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Cemirs Geburt und Atatürks Tod herzustellen, oder? Andererseits: Die Dorfbewohner waren aufs Überleben reduziert. Der frühe Winter in dieser Bergregion war hart. Es wurden viele Kinder geboren und viele starben, da war ein individuelles Geburtsdatum unwichtig.
Auch verstärkten sich in dieser Zeit die Unruhen zwischen Kurden und Türken.
Alles war im Umbruch, alles fieberhaft.
Nur wenige Monate vor Cemirs Geburt hatten die türkischen Staatsorgane ein Massaker in der kurdischen Stadt Dersim, auf der anderen Seite der Grenze und nicht weit von Hemite entfernt, durchgeführt. Unter Führung von Seyid Riza erhoben sich die Kurden im Raum Dersim. Sie forderten Freiheit und Gleichheit. Die türkischen Staatsorgane ermordeten siebzigtausend Kurden in dem Gebiet. Das zog Kreise, denn junge Männer aus Hemite wurden rekrutiert, um kurdische Dörfer dem Erdboden gleichzumachen. Wer hatte da Zeit für Familienbücher?
Wusste Papa, der Atatürk über alles verehrte, dass sein Idol nicht nur ein Reformer, sondern auch ein Diktator gewesen war, der dem faschistischen Regime nahegestanden hatte? Wusste Papa, dass Atatürk menschenverachtende Thesen verfolgt hatte, wie: Wer sich nicht als Türke fühlt, hat dem Türken zu dienen!, was er besonders für die Kurden meinte, die er dann ziemlich kräftig in den Hintern trat.
Wusste Papa, dass die türkische Elite viel Übung darin hatte, Minderheiten auszurotten? Der erste große Genozid im 20. Jahrhundert wurde unter Enver Pascha im 1. Weltkrieg begangen. 1915 rottete man ca. 1,5 Millionen Armenier im Osmanischen Reich ziemlich unbeachtet aus. Die Welt blickte auf den Ersten Weltkrieg im Gesamten und der an den Armeniern begangene Genozid wurde ignoriert, brachte Atatürk politisch aber ganz nach oben.
Wusste sein streng religiöser Papa, dass Atatürk gesagt haben soll: Der Islam, diese absurde Gotteslehre eines unmoralischen Beduinen ist ein verwesender Kadaver, der unser Leben vergiftet .
Nein, gewiss nicht. Wie die meisten Türken sah Papa nur, was er sehen wollte: das durch Atatürk vermittelte Selbstbewusstsein gegenüber der westlichen Welt und dem fundamentalistischen
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