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Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Titel: Alles auf Anfang: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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Islam.
    Später erfuhr Cemir, dass im 2. Weltkrieg die Türkei trotz offizieller Neutralität einer der wichtigsten Rohstofflieferanten des deutschen Naziregimes gewesen war. Erst kurz vor Ende des 2. Weltkrieges löste die Türkei diese Verbindung, um im Lager der westlichen Alliierten auftauchen zu können.
    Das, und die Stellung der Türkei in der Kurdenfrage führte bei Cemir zu einer Identitätskrise und dazu, dass er sich 1956 an der Universität einschrieb, um Geschichte zu studieren. Er wollte alles wissen, alles lernen, dann bemessen.
    In diesen Monaten starb sein Papa und Cemir kehrte, der Not seiner Familie gehorchend, nach Hemite zurück. Dort unterstützte er Mama und Schwestern und wurde ein angesehener Mann. Sein Studium nahm er nie wieder auf. Stattdessen folgte er erst dem Ruf der Liebe, dann dem Ruf des Geldes.
    Doch das, entscheidet Cemir an diesem Sonntagabend, ist eine andere Erinnerung.
    Er versucht erneut, sich auf sein Buch zu konzentrieren. Was sollen diese Hirngespinste? Warum macht er sich das Leben schwer? Es war seine freie Entscheidung gewesen, nach Deutschland zu gehen.
    Heute könnte ein guter Abend für Verinnerlichung sein, denn Mahmut und Yamal sind in den Oldtimer Musikclub gegangen, laute Musik hören, Beat oder wie das Zeug heißt. Den beiden ist egal, wie viel Schlaf sie kriegen.
    Leider sind diese Clubbesuche regelmäßig von Problemen überschattet. Die despotischen Portugiesen haben einen Widerwillen gegen Türken und es kommt immer wieder zu Streit um deutsche Mädchen, mit denen man im Club tanzt. Viel heißblütiges Hin und Her, Klappmesser und Verletzungen, Racheschwüre und zwei Sprachen, deren gemeinsamer Nenner die Gewalt ist.
    Die nächsten Stunden vergehen wie im Fluge. Das Buch fesselt Cemir, bis das Unheil geschieht.
    Mahmut und Yamal kehren kurz vor Mitternacht nach Hause zurück, blutend, mit zerschrammten Gesichtern. Nun ist es aus mit Cemirs Ruhe. Er versorgt seine Mitbewohner und wäscht das Blut ab.
    Die Verletzten plappern konfus durcheinander wie kleine Jungs, die sich geprügelt haben und nicht weiter wissen.
    Wenige Minuten später fahren zwei Polizeiautos vor. Jetzt ist der Teufel los. Mahmut und Yamal schreien rum, die Polizisten sind überfordert, man legt den Männern Handschellen an und führt sie ab. Cemir versucht zu schlichten, aber man schiebt ihn weg wie ein Möbelstück und konzentriert sich auf die Männer, denen der Alkohol und die Furcht vor der Obrigkeit ins Gesicht geschrieben stehen. Noch ist der genaue Hergang nicht klar. Dass Mahmut und Yamal nicht vor irgendetwas geflüchtet, sondern direkt in ihre Wohnung gegangen sind, entlastet nicht, denn niemand versteht des anderen Sprache zur Genüge. Das alte Problem. Einen Dolmetscher gibt es nur auf dem Revier.
    Dafür gibt es diesen Fotografen. Der blitzt während der Verhaftung munter drauf los, bis die Polizisten ihn verscheuchen. Da werden sich Bergborns Bürger in den nächsten Tagen wieder das Maul zerreißen können, wenn sie die Zeitung lesen. Cemir, der seine Hilflosigkeit verabscheut und doch nichts tun kann, fürchtet, dass man ihn auf einem der Fotos erkennt. Das wäre Wasser auf Schotterbeins Mühlen und kann ihm die Arbeit kosten. Man schiebt Türken schneller ab, als man blinzeln kann.
    Die letzte Woche war anstrengend genug gewesen. Die Auseinandersetzung mit dem Steiger eskalierte und dieser blonde Deutsche mischte sich ein. Ein guter Mann. Frank – Frank Wille heißt er. Er ist fleißiger als die meisten anderen Männer, hat Cemir beobachtet. Und er ist stärker als sie. Er ist fast so stark wie Cemir, der an drei aufeinanderfolgenden Jahren Schulmeister im Freistilringen gewesen war. Und nun das. Die Polizei. Gaffende Nachbarn. Tuschelnde Neugierige, die mit dem Finger zeigen.
    Dann, als der Spuk vorbei ist, herrscht ohrenbetäubende Stille. Cemir schüttet Teewasser in einen Blechtopf, das er auf einem Campingkocher erhitzt.
    Wie meist geht es um Frauen.
    Junge, blonde, wohlgeformte Mädchen, die seinen Brüdern schöne Augen machen.
    In Bezug auf Frauen und Alkohol weiß Cemir, dass er gegen Wände predigt. Wie soll ein junger Mann in diesem freizügigen Deutschland den Versuchungen widerstehen? Ja, wie lange würde er, Cemir Cülcze, sich der sexuell-kulturellen Revolution dieses Paradieses noch widersetzen können?
    In Hemite oder den Nachbardörfern gibt es vierzigjährige Männer, die noch nie in ihrem Leben eine Frau gehabt haben. Übergriffe auf Frauen, Jungen oder

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