Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
gar Tiere endete gelegentlich entsetzlich, zum Beispiel wenn ein Mann sich an der Frau eines anderen Mannes vergriff und von diesem getötet wurde. Es gab Stellen in den Bergen, die nur der Dorfälteste und einige Handverlesene kannten, wo man die Leichen verscharrte, deren Hinscheiden allen Menschen außerhalb des Dorfes ebenso verschwiegen wurde wie die brisanten Inhalte von Jamilas Kladde.
Alles, was einem im vollen Saft stehenden Mann in einem Dorf wie Hemite verwehrt war, kann in Deutschland gepflückt werden, wie reife Oliven während der Ernte. Hinzu kommen der Reiz des Geldes und die Verfügbarkeit fast jeden Gutes. Noch nach acht Monaten in Deutschland staunt Cemir über die technischen Errungenschaften, und seine Augen bekommen einen sehnsüchtigen Glanz, wenn er andere Männer auf ihren Motorrädern oder in ihren Autos sieht. Irgendwann wird auch er einen Volkswagen, einen Ford, vielleicht sogar einen Mercedes haben, das weiß er. Damit wird er heimkehren und seine Aysel wird neben ihm sitzen, wenn sie dann zum Meer fahren, um dort einen schönen Tag zu verbringen. Ja, möglicherweise holt er Aysel sogar zu sich nach Deutschland. Hier könnten sie endlich viele Söhne aufziehen, eine schöne Wohnung haben und sie werden es all denen zeigen, die sich anmaßen, einen Mann wie ihn, den starken Cemir, den Meisterringer, vor anderen Augen zu züchtigen.
Gegen halb zwei Uhr kehrt Hasan heim, angetrunken. Er ist erschüttert, als Cemir ihm von den Geschehnissen berichtet. Er kramt eine Bierflasche aus seiner Papiertüte, trinkt und fläzt sich auf die löcherige Couch.
Cemir schüttelt den Kopf. »Warum musst du immerzu saufen?«
»Pah«, winkt Hasan ab. »Allah ist weit weg.«
Hasan ist ein bildhübscher Kerl. Zweiundzwanzig, schlank, griechisch anmutende Gesichtszüge, lockige Haare, die etwas zu lang sind, schneeweiße Zähne. Seine dunklen Augen, die sonst blitzen und manches Mädchen nervös machen, sind verhangen und trübe vom Alkohol.
»Was wird deine Mutter dazu sagen?«
»Wozu, he Cemir? Wozu?”
»Ihr alle trinkt Alkohol und schlagt euch mit den Portugiesen. Ihr verschmäht eure Traditionen und macht euch an deutsche Mädchen ran. Schau, was daraus werden kann, was mit Yamal und Mahmut geschehen ist. Wer weiß, was auf die beiden zukommt. Vielleicht schickt man sie zurück in die Türkei.«
»Ha! Die Weiber machen sich an mich ran, das ist ein Unterschied. Sie alle wollen mit mir und mit Yamal und den anderen. Irgendwas finden sie an uns, was sie an ihren eigenen Männern nicht haben. Vielleicht wollen sie auch einfach nur einen beschnittenen Schwanz.«
»Schweig!«, donnert Cemir. Er hat Kopfschmerzen, seine Augen brennen. Hasan zuckt zusammen und sein Kopf verschwindet zwischen den Schultern. Er schlägt die Augen nieder.
Cemir knurrt und leert seinen Tee. »Ich möchte nicht, dass auch du so redest. Ich kenne dich seit deiner Kindheit. Du bist ein guter Kerl. Aber du vergisst deine Wurzeln. Wir sind in diesem Land, um Geld für unsere Familien zu verdienen, nicht um deutsche Mädchen zu schwängern oder uns in Clubs herumzutreiben. Wir sind hier nur Gäste. Wir müssen versuchen, diese Menschen zu achten.«
»He, he, he ... so wie der Steiger dich achtet, der dich vor allen Augen schlägt? So wie alle anderen dich achten? So wie alle, die auf dich pfeifen, weil du nur ein verlauster Kümmel bist?«, fährt Hasan auf, sackt unter Cemirs Blick aber sofort wieder in sich zusammen.
»Es gibt solche und solche. In jedem Land, in jeder Stadt gibt es solche und solche.« Nach einer kleinen Pause fügt er hinzu: »Und der Steiger wird büßen, das schwöre ich.«
»Keiner hier wird dir deinen Fleiß jemals danken«, murmelt Hasan. Er grunzt abfällig und drückt seine Zigarette auf einem Bierdeckel aus. »Vor ein paar Tagen kam ein Portugiese in Deutschland an. Er war der einmillionste Gastarbeiter. Man hat ihn mit einem Strauß Nelken und einem Moped begrüßt. Einem winzigen Moped ...«
»Hast du ein Moped?«
»Pah, brauch ich nicht.«
»Du gehst mir auf die Nerven«, knurrt Cemir.
Hasan holt beleidigt Luft, reckt sich und fällt wieder in sich zusammen. Wenn es darauf ankommt, wird Cemir von den Männern respektiert. Nur wenn er nicht bei ihnen ist, gibt es Schwierigkeiten.
Die Zeit vergeht und Hasan hat angefangen zu schnarchen. Sein Kinn ruht auf der Brust. Auf seiner Stirn haben sich feine Schweißtropfen gesammelt.
Zu viel Bier, denkt Cemir und stöhnt innerlich. Dieses Gesöff
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