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Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Titel: Alles auf Anfang: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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sind türkische Männer nicht gewohnt. Dann schon lieber Rotwein, den man seit dem Fall des Osmanischen Reichs im Jahre 1919 in der Türkei produziert. Obwohl der Koran Alkohol verbietet, hält sich kaum jemand daran. Die meisten Leute vermeiden das Trinken von Alkohol nur am Tag vor dem Freitagsgebet. Cemir trinkt überhaupt nicht. Vielmehr genießt er die Stunden des Gebetes auf seinem kleinen Teppich mit klarem Kopf und mentaler Stärke.
    Morgen früh wird Hasan eine gute Portion Salgam brauchen, Sirup aus Rote Beete, der die schlimmsten Beschwerden lindert. Cemir bewahrt etwas davon in dem Schrank an der Wand auf. Gut, dass es einen kleinen türkischen Laden am Stadtrand gibt. Dort kann man gut einkaufen und fühlt sich für ein paar Minuten heimisch. Im Sommer hatte der dicke Ali sogar ein paar Stühle, zwei Tischchen und einige Backgammon-Bretter vor seinen Stand aufgebaut. Egal wie sehr die Passanten auch den Kopf schüttelten, schaffte der quirlige Händler - dem man nachsagt, er sei ein Freund des Lumpensammlers, der mit seinem Pferdekarren die Stadt durchstreift, – auf diese Weise ein paar Quadratmeter Heimat.
    Cemir bettet Hasan auf die Couch und deckt ihn zu. Sanft streichen seine Finger durch das Haar desjenigen, der nur vier Jahre jünger ist als er, für den er sich verantwortlich fühlt wie ein Vater und der – Allah sei Dank! – heute Abend nicht mit den anderen im Musikclub war, sondern zu einem Backgammonabend bei Ali.
    Die Minuten verstreichen, ohne dass Cemir schläft. Er raucht bereits die dritte Wasserpfeife. In seinem Schädel wummert es, bekämpfen sich Müdigkeit, Sorgen und eine kristalline Wachheit.
    Er weiß, wie gefährlich eine schlaflose Nacht ist. Wer zu spät kommt, kann kaum noch in die Grube einfahren, wem das zu oft passiert, wird gefeuert. Für einen Mann, der nicht geschlafen hat, kann die Frühschicht zu einer Tortur werden.
    Um halb fünf Uhr verlassen er und Hasan das Haus.
    Cemir ist todmüde aufgedreht und wie gerädert hellwach. Es ist kühl aber die Nachtfeuchte, die milchige Nebel um die Straßenlaternen legt, vertreibt die Kopfschmerzen.
    Das wird ein harter Tag, sinniert Cemir, ein verdammt harter Tag.
    Drei, vier Straßen, noch einmal nach rechts und die Lichter des Förderturms blitzen in der Dunkelheit auf, hoch über Bergborn. Von rechts kommt ein Trupp Männer aus dem Ledigenheim, dem Bullenkloster. Autobusse fahren vor, müde Kumpels kriechen hinter den Sitzen hervor, stolpern in die Morgenluft, Drahtesel bimmeln Richtung Fahrradschuppen, Stimmen schwirren - Glückauf! - ‘auf ‘auf! - irgendwo klingt eine Signalglocke, Turbinen dröhnen, Metall knallt auf Metall, nicht angekoppelte Kohlenwagen krachen ineinander, weiße Neonröhren schimmern feucht, knisternde Strahler erleuchten das Gelände, aus einem Lautsprecher dröhnen Anweisungen, es stinkt nach Benzin, Rasierwasser, Schweiß und Zigarettenqualm. Schulter an Schulter quält sich die Masse der Männer in Richtung Zechenhof und Waschkaue, manche husten, spucken, fluchen, hin und wieder lacht jemand, ein steter Fluss Arbeitskraft, bereit, von Dunkelheit in Dunkelheit zu gehen.
    »Glückauf!« Hier ein gemurmelter Gruß, dort ein Nicken.
    »Auf!« Das Glück spart man sich. Husten, kchk! kchk! kchk!
    Ein Mann rempelt ihn an. Entschuldigt sich hastig.
    Cemir hebt den Kopf, der andere auch, zwei Männer, die sich mit müden Augen anschauen.
    Frank Wille und Cemir Cülcze. Sie gehen Seite an Seite durch das Tor.
     
     
     

9
     
    Die Linden vor dem Büchner-Gymnasium, einem mächtigen Kasten aus roten Klinkersteinen errichtet und mit Efeu bekleidet, begrüßen Tom mit rauschendem Blattwerk, das heruntergewirbelte Laub bildet einen rutschigen Teppich, der geradewegs zum Eingang führt.
    Achtung! Wer eintritt, kehrt nie wieder zurück ... HÄ HÄ!, möchte man auf dem roten Mauerwerk lesen.
    Tom drückt die schwere Holztür auf, das Tor, das Maul öffnet sich, um einen Schüler zu verschlingen.
    Der Geruch von Bohnerwachs kneift in Toms Nase, durchdringend, ätzend, das rustikale Parkett glänzt ölig. Hier sind sie jahrzehntelang gewandelt, gelaufen, gerannt, gestolpert, geschlurft: Schüler, Lehrer, Direktoren und Eltern. Die Flecken auf dem Parkett sind wie eine Patina verfehlter Hoffnungen, geträumter Erfolge, der Hauch des Schreckens, Holz durchtränkt von Schweiß und Tränen. Dämmrig weite Gänge mit Wänden, braun wie vertrocknete Schokolade, Wände, an denen Bilder, Plakate, Schwarze Bretter

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