Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
besser, sie hat sowieso keine Lust auf einen Schwatz.
Wer weiß schon, was der olle Knopp so alles erzählt hat.
Wieder in ihrer Wohnung quälen sie die Gedanken: Warum hatte Frank sie nicht wie üblich geweckt? Hatte er ein schlechtes Gewissen? Wollte er ihr aus dem Weg gehen?
Sie findet die Antwort. Die Stoffballen, die Flaggen sind weg, und als Lotte auf dem Weg zum Bus ist, der sie zum Stadtkrankenhaus bringen soll, traut sie ihren Augen nicht, als sie beide Flaggen munter an den Masten der Lebensfreude Bergborn flattern sieht.
Also hat Frank ...
Sie folgt dieser Annahme bis zur Konsequenz. Er hat höchstwahrscheinlich kaum oder gar nicht geschlafen und ist nun unter Tage. Sie ist seit dreizehn Jahren Bergmannfrau und weiß, wie gefährlich das für ihn sein kann. Es gab viele Tage, an denen sie, nur weil Frank oder die Ausfahrt sich verspätete, vor Sorgen weinend am Fenster stand, auf das Heulen der Notsirene wartend, auf das Jammern der Krankenwagen, darauf, dass die Grubenflagge auf Halbmast rutschte, was immer geschah, wenn es einen oder mehrere Tote gab.
Hoffentlich achtet er auf sich.
Sie liebt ihn so sehr, diesen Mann, mit dem sie ein so romantisches Vorleben verbindet, die Zeit vor ihrer Hochzeit, die eines des Wartens, des Hoffens und der Gefahr war. Heute liebt sie ihn desto mehr dafür, dass er einen moralischen Klimmzug vollzogen hat, gewiss nicht nur aus Verantwortungsbewusstsein, sondern weil er seinen Fehler einsieht. Er ist kein Dieb, sondern ein verlässlicher Ehemann, Freund und Vater. Nun wird er seinem Sohn wieder in die Augen schauen können.
So rauscht die Zeit dahin, während sie im vom Zigarettenqualm verrauchten Bus sitzt. Es fängt an zu regnen, Tropfen klatschen an die Fensterscheiben und ziehen vertikale Streifen an das Glas. Blätter wehen über die Straße. Regenschirme stülpen sich im Wind. In der Ferne der weiße Betonklotz. Das Krankenhaus, wo Ottilie ist.
Das Gespräch mit dem Arzt ist unergiebig. Ottilie neige zur Hysterie. Sie flüchte sich in ihre eigene Welt. Sie versteckt sich vor irgendetwas, verbirgt ihre Gründe hinter einer Wand von Stillschweigen. Pubertät. Das muss der Grund sein, die Entwicklungsphase. Ansonsten Achselzucken. Niemand weiß was Genaues, man muss die Sache beobachten, am besten alle scharfen Gegenstände aus Ottilies Umfeld entsorgen, auf ihren Umgang muss man achten, womit, daran zweifelt Lotte keinen Augenblick, Jungs oder Männer gemeint sind.
Wie das gehen soll, fragt sich Lotte. Wie soll sie kochen ohne Messer, wie soll Frank sich rasieren? Und mit Jungs hat Ottilie nichts im Sinn. Sie erinnert sich daran, wie fassungslos ihre Tochter gewesen war, als sie ihre erste Regel bekam. So reagiert kein Mädchen, dessen Erfahrungsschatz schon gereift ist.
Ottilie freut sich ihre Mutter wieder zu sehen, sie ist munter, ein ganz normales Mädchen, das endlich weg will aus diesem sterilen Krankenzimmer, in dem es nach Desinfektion, Furz und Waschmittel riecht. Sie freut sich auf zuhause und vermerkt stolz, die Ritze an den Armen seien schon bald wieder verheilt.
Dieses Mädchen soll hysterisch sein? Blödsinn! Lotte wird zornig. Dummschwätzer! Was wissen die alle schon über ihre Kleine? Sie drückt Ottilie an sich, diesen filigranen Körper, der die Grenze zum Frausein überschritten hat, streichelt ihr das goldene Haar, herzt sie und weicht vor sich selber zurück, weil sie solche Nähe nicht gewohnt ist. Auch Ottilie ist verschreckt, windet sich aus der Liebkosung, denn so kennt sie ihre Mutter nicht. Küssen und schmusen – das ist nicht die Sache von Mama. Für einen Moment herrscht Stummheit zwischen Mutter und Tochter. Dann fragt Ottilie, ob es Papa und Tommy gut gehe, ganz fürsorglich, als gehe es um die andren und nicht um ihr quälendes Problem.
Später, nach Mittag, kocht Lotte eine Linsensuppe, für die die Willes eine Vorliebe haben, schält die Kartoffeln mit Liebe, würfelt den Speck mit Liebe, rührt mit Liebe, würzt mit Liebe, denn alle sollen sich wohlfühlen, sollen loben und sagen, dass es gut schmeckt, dass Mama die beste Köchin der Welt sei. Während dieser Ausübung vollzieht sie eine mentale Umarmung mit ihrer Familie und ist bisweilen traurig, wenn ihr kulinarisches Geschenk nicht anerkannt, für selbstverständlich erachtet wird.
Ottilie deckt den Tisch und plappert über dies und das, ist neugierig, wie die Geburtstagsfeier war, fragt nach Oma und Onkel Piefke und all den anderen und vor allen Dingen danach,
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