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Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Titel: Alles auf Anfang: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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Sonnenlicht hereinfiel, tanzende Staubflocken im Lichtstrahl.
    Die Einrichtung ist ziemlich alt, schätzte Tom, und alles scheint sehr ordentlich und aufgeräumt, was aber egal ist, denn – um Himmels willen – die alte Frau ist viel wichtiger, denn nur um die geht es hier! Was kümmert ihn die Wohnungseinrichtung? So etwas hat ihn noch nie interessiert.
    Frau Marek, die im Rollstuhl saß, war nicht etwa alt, sondern uralt, wirklich wie die Hexe aus einem Märchen, dass Mama immer so gerne vorlas, wenn Tom gemeinsam mit Ottilie den Bräunungswettbewerb bestritt, außerdem verbarg die Alte ihre Beine unter einer Decke. Ihre Haare waren lang wie die eines jungen Mädchens und schneeweiß. Die Augen im hageren Gesicht blitzten lebhaft. Die gelbe Brosche auf der schwarzen Bluse, so groß wie ein Butterkeks von Mama, reflektierte in einem Lichtstrahl, der, als sie sich etwas bewegte, flüchtig über die Wand huschte.
    Tom ertappte sich, dass er dastand wie eine Statue und die behinderte Frau anstarrte.
    »Nun krieg dich ein, Junge. Und damit du dir keine unnötigen Rätsel aufgibst ...«
    Flugs zog sie die Decke von ihren Beinen ...
    ... die nicht da waren. Stattdessen zwei Stümpfe, die noch vor der Kniescheibe endeten.
    Tom seufzte und machte unwillkürlich einen Schritt nach hinten, wobei er um Haaresbreite eine Nippesfigur von einem Beistelltisch gestoßen hätte.
    Frau Marek legte die Decke wieder dorthin zurück, wo ihre Beine hätten sein sollen, und lachte hustend, wobei sich ihr Körper aufbäumte, als hätte irgendein unsichtbarer Foltermeister sie unter Strom gesetzt. »Vor fünf Jahren nahm man mir das erste Bein ab, vor zwei Jahren das nächste. Da man nur zwei davon hat und sie nun weg sind, kann ich endlich rauchen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.«
    Tom nickte erschüttert.
    »Es sei denn, ich verliere auch noch meine Arme.«
    Tom starrte.
    Sie lachte gackernd. »Dann hoffe ich, es fängt mit dem linken an!« Ihr scharfgemeißelter Schädel ruckte zu ihm hoch, wobei sie gleichzeitig mit einer lasziven Bewegung ihre glatten weißen Fransen über die Schulter strich. »Und warum?«
    Tom schluckte. Er konnte nichts sagen, denn seine Lippen klebten aufeinander, als wäre er gerade in einem Albtraum, einen von dieser Sorte, bei dem man weiß, das man träumt, und trotzdem nicht aufwachen kann.
    »Weil ich Rechtshänderin bin, dummer Junge.«
    Na klar, na klar! Dumme Frage, nicht wahr?
    »Möchtest du etwas trinken?«
    »Nnnh nnnnh ...«
    »Ich habe Kakao.«
    »Nnnh nnnnh ...«
    »Macht nichts. Wir werden uns mit der Zeit besser kennenlernen.«
    Und sie lernten sich kennen.
    Mit der Zeit ...
    Tom wacht aus seiner Erinnerung auf, die auch wieder eine von denen ist, die bleibt.
    So wie die Schreibmaschine, auf die er sich, währenddessen er heute die Botengänge für Frau Marek erledigt, unbändig freut. Auf der tippt er - und setzt Finger um Finger, lernt die Tastatur mit Akribie – die erste Seite seiner Geschichte, in der es um ein Wolfsjunges geht.
    Klack!
    Klack!
    Buchstabe für Buchstabe. Rrratsch, den Hebel nach links, die neue Zeile tippen, bis kurz vor dem rechten Seitenrand ein Glöckchen warnt. Bling !
    Rrratsch!
    Klack!, schnellt das Ärmchen mit dem Buchstaben gegen das Farbband, drückt dieses knackend gegen das Papier.
    Und Absatz!
    Später, nach dem Abendessen, er hat sich fürs Bett verabschiedet, liegt Tom auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, währenddessen ein milder Sommerhauch durch die geöffnete Dachluke fächelt.
    In der Küche diskutieren Mama, Vater und Oma Käthe lebhaft. Tom hat keine Lust zu lauschen. Hinter seinen geschlossenen Lidern nehmen Bilder Gestalt an, weibliche zumeist, und es beginnt ihm heiß über den Rücken zu laufen, was wenig mit den Temperaturen zu tun hat, denn die Sonne geht bereits unter und es wird kühler.
    Da ist Karla aus der Parallelklasse, die er nie für sich gewann, da man seinen Liebesbrief abgefangen und vor der ganzen Klasse verlesen hat. Kreischendes Gelächter der Mädchen. Anzüglichkeiten von den Jungen. Welche Schande!
    Und Christiane, die er wochenlang vom Sportunterricht nach Hause begleitet hat, ohne ihre Hand zu greifen, ohne ihr seine Liebe zu gestehen, ein hübsches Mädchen, für die er ein Mutiger sein möchte, der inmitten einer Feuersbrunst seine Liebste rettet und heldenhaft aus dem Haus trägt, ihren Kopf an seiner Schulter, das Herz voller Hitze.
    Oder Beatrice, die schon mit dreizehn riesige Brüste hat,

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