Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
Dann sei noch genug Zeit für eine Aussprache, nicht wahr?
Irgendwann – sie legte den Augenblick ganz spontan fest - konnte Lotte Ginas larmoyantes Gerede nicht mehr ertragen, legte einfach auf und fing an zu weinen, was Frau Rampf zu einem Kopfschütteln veranlasste und ihren Mann dazu, drei Schnäpschen einzugießen. Lotte hatte rasende Kopfschmerzen und ein noch rasenderes schlechtes Gewissen, als sie drei Schnäpse später in die Wohnung zurückkehrte, wo sie Oma Käthe vorfand, der sie sich in ihrer Not anvertraute, was erneute Vorwürfe zur Folge hatte und die Gewissheit, derzeit alleine auf weiter Flur zu sein.
Mit Frank redete sie später. Was gab es zu tun?
Wie sollte es weitergehen?
Wann würde diese Plackerei ein Ende haben?
Wann würde Ottilie endlich wieder bei ihnen wohnen?
War es gut, dass eine Familie auseinandergerissen war?
War es richtig, alles dem Wunsch nach Haus und Garten unterzuordnen?
Sie waren in die Stadt gefahren, um sich abzulenken, hatten Thomas eine Schreibmaschine geschenkt, hatten mit stiller Verzweiflung versucht, die Normalität zu greifen und waren gescheitert, wie sie heute an ihrem schweren Schädel, ihrem Kater ermessen kann, denn es war nicht nur bei Rampfs Schnäpschen geblieben.
Sie stellt den Gekröseeimer vor die Mischmaschine und sieht sich nach Burkhard Nelkenmeyer, dem Fleischermeister, um, der ihr weitere Aufgaben zuteilen, wird. Den ganzen Tag schon arbeitet sie wie eine Wilde, gesteuert von Grimm, Bedenken und Ratlosigkeit. Ihr Arbeitskittel ist schweißnass, unter der Haarhaube haben sich Pfützen gesammelt. In dieser Sommerhitze muss Fleisch schnell, schnell, schnell verarbeitet werden, damit nichts verdirbt, damit alles hopplahopp ins Kühlhaus kommt. Das ist anstrengend!
Da werden Därme geschlupft, Würste gewickelt, Fleischsude gekocht, Breie gequirlt, Gewürze gemischt, Speck und Innereien verkröst, Melasse beigemengt, Gallerte, Schweinehirn, Maismehl, neuartige Sojaflocken und Milchzuckerpulver untergerührt, werden Naturmägen ausgelaugt und Blut blubbert in großen Kesseln.
Schweineleber und Bauchfleisch werden geputzt, zu einer quatschigen Substanz verrührt, erwärmt, Zwiebelfett dazu geworfen, geschälte Zwiebeln, Salz, fein gestoßener weißer Pfeffer, Nelkenpfeffer und Thymian kommen dazu und alles rein in Fettdärme vom Schwein oder Rind, alles wird noch mal eine halbe Stunde in mäßig siedendem Wasser gekocht und fertig ist die Leberwurst.
Schnell, schnell, Würste im Akkord, fieberhaft, rastlos, da ist keine Zeit für Pausen. Das bringt dreihundert Mark im Monat und billig Wurst und Fleisch auf den heimischen Tisch, wovon die ganze Familie was hat.
Seitdem Lotte diese Arbeit in der Wurstfabrik hat, gibt es jeden Tag Braten und Schinken bei den Willes. Vielleicht legt Thomas ja mal ein paar Pfunde zu. Und alles zum Sonderpreis, fette Batzen auf dem Herd und in der Pfanne.
Grölendes Gelächter lässt Lotte aufmerken. Sie hat sich verträumt. Metzgermeister Nelkenmeyer grinst gutmütig und winkt ihr, ihm zu folgen.
»Schwattemagen«, sagt er und Lotte weiß, was gemeint ist.
Da werden Ochsenmaul, Schweinskopf, Kalbskopf, diese ganzen Tierschädel, Schweinefleisch und Pökelzungen zusammen gekocht. Das bedeutet Köpfe entkernen, Zungen beiseitelegen, Säge, Messer und Spatel handhaben. Später müssen Sellerieknollen, Mohrrüben und Zwiebeln bearbeitet werden, was stinkt, in den Augen beißt, aber der Firma das Gütesiegel ‚wie bei Muttern’ eingebracht hat.
Eckhard schleppt einen Beutel mit Kaliumnitrat heran, sieht Lotte an und kichert meckernd.
»... und Sülze müssen wir auch noch machen!«, sagt Nelkenmeyer, was bedeutet, dass Schweinemasken und Schweinezungen in Gewürzlake gekocht werden, von Hand zugeschnitten und mit Aspik, der mit Gewürzen und Wein angereichert wird, in Gläser gefüllt. Alles schnell, schnell, schnell. Die Konkurrenz schläft nicht.
Hinter den Füllmaschinen tauchen Köpfe auf. Margot und Gertrud, die sich vor Lachen den Bauch halten.
Neben dem Kutter steht Benno und kriegt sich nicht mehr ein. Vor der Räucherkabine hat Heinrich Stellung bezogen und kichert wie ein Besessener. Der Metzgermeister verhält an der Verschlussmaschine und schüttelt den Kopf.
»Lotte ...«, sagt er fast beschwörend und lächelt mit den Augen.
Endlich bemerkt sie, dass man über sie lacht. Und als sie verdutzt dreinschaut, sich dreht und wendet, schreien die Arbeitskollegen hysterisch auf und lachen und lachen und
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