Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
und ihn mit einem Blick bedacht, der ganz seltsam war, als wenn er von innen in Flammen stünde. Das ist verrückt!
Das ist erregend.
Er hat seinen Vater geschlagen, er ist ihm ebenbürtig, einer von zwei Männern, die sich gemessen haben und dies – Tom ahnt das – zukünftig auf die eine oder andere Art immer wieder tun werden. Er ist dreizehn Jahre alt, fast vierzehn, also kein kleines Kind mehr und dieser Mann, der ihn trainiert, ist sein Partner.
In diesem Moment verändert sich der Nimbus von Papa: Dieser Mann ist sein Vater! Ein Mann wie Tom, ein paar Jahre älter zwar, dennoch ein Mann.
Wir werden erleben, dass Tom am Abend nicht mehr zu ihm geht, um ihm einen Gutenacht-Kuss zu geben, sondern ihm die Hand reicht, wie es Männer tun, fest und freundschaftlich. Es wird Abend für Abend ein sportliches Messen zwischen Vater und Sohn werden; man reicht sich die Hände, fest und stark, bis die Knochen knacken, denn ein richtiger Mann hat auch einen markanten Händedruck. Tom wird mit dem Gefühl ins Bett gehen, sich von einem Freund verabschiedet zu haben.
Das ist eine der Erinnerungen, die bleibt. Dieser Moment der Erneuerung, des Wandels, der eigenen Erkennung – unvergesslich vergesslich!
Nicht weniger unvergesslich ist die Zeichnung, die Tom seinem Vater am selben Abend vorlegt. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Die Idee entspringt nicht seinem Gehirn, dennoch findet er sie fabelhaft. Was macht mehr Spaß, als einen Mann zu testen, dessen Belesenheit schier erdrückend wirken kann?
Tom zeichnet auf ein Blatt Papier eine Schlange, die einen Elefanten verspeist hat, und legt sie Vater vor.
»Ein Hut, Filius, das ist ein Hut!«, sagt Vater.
Wie Tom es erwartet hat. So wurde es in dem Buch beschrieben, das er gelesen hat und Papa – Vater! – hat genau die vorhergesagte Wahrnehmung: Ein Hut!
»Kein Hut, sondern eine Schlange, die einen Elefanten gefressen hat. Das ist aus Der Kleine Prinz «, sagt Tom. »Dieses Buch ist schon vor acht Jahren erschienen. Und du hast es nicht gelesen?«
Vater lächelt.
»Es ist ein philosophisches Buch«, sagt Tom.
»Ach ja?«
»Eine Geschichte darüber, wie Menschen glücklich sein können.«
»Glücklich ...«
»Ja, glücklich. Weil man wirklich gut nur mit dem Herzen sieht.«
»Mir gefällt, was du darüber sagst. Mit dem Herzen sehen ... Ich wäre froh, ich hätte mehr Zeit zum Lesen«, sagt Vater.
»Ich habe das Buch in der Bücherei gefunden. Soll ich es dir leihen?«
Es ist das erste Buch, das Tom seinem Vater empfiehlt. Ein Zeichen dafür, dass es Literatur gibt, die außerhalb der guten Stube existiert und nichts mit diesem ollen Goethe zu tun hat, der für den altmodischen Namen von Toms Schwester Pate stand.
Das ist eine der Erinnerungen, die bleibt. Dieser Moment der Erneuerung, des Wandels, der eigenen Erkennung – unvergesslich vergesslich!
Und alles geschieht an einem Tag, im Fußball-Sommer 1966 – Vater hat sich ein paar Tage frei genommen - vier Tage, bevor Deutschland sein Endspiel gegen die Engländer hat.
Doch nicht genug, ist da noch dieses spätabendliche Geständnis:
»Ich hab’ eine Geschichte geschrieben. Willst du die lesen?«
Vater schmunzelt und nimmt das Manuskript, drei handbeschriebene Seiten, entgegen. »Na klar. Noch heute Abend.«
Die Nacht ist viel zu lang für Tom, denn er will wissen – nichts bedeutet ihm mehr! – was Papa – nein, Vater! – dazu meint.
Eigentlich hätte er die Geschichte erst Lile zu lesen gegeben, aber die ist nicht da. Tom vermisst Ottilie sehr. Seitdem seine Schwester bei Onkel Otto wohnt, ist Tom noch einsamer als zuvor. Liest noch mehr als sonst, versucht sich schreibend, träumt sich davon. Hoffentlich zieht die Familie bald hier aus, damit Lile wieder zu ihm zurück kann. Damit sie sich wieder geschwisterlich zärgern, ihre kleinen Geheimnisse austauschen können.
Am nächsten Mittag nach der Schule sind Papa und Mama nicht zu Hause.
Einkaufen sind sie, meint Oma Käthe und mustert ihn über ihre Brillengläser. »Kämm dich mal anständig.«
»Ja, ja.«
»Du siehst aus wie ein Hallodri.«
»Ja, ja.«
»Sei nicht so frech! Und wasch dich ordentlich. In einer halben Stunde gibt’s Möppkenbrot mit Kartoffelbrei.«
Tom trollt sich in sein Zimmer und Oma murmelt was in ihren Bart. Mit ihr möchte er jetzt nicht sprechen. Seitdem Oma andauernd hier wohnt, hat sich ihre großmütterliche Attraktivität verflüchtigt. Geblieben ist die leidige Präsenz einer alten Frau, die mit
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