Alles auf Anfang: Roman (German Edition)
Wunder von Bern geben?
Mike genießt diese frühen Momente, wenn er alleine im Büro ist, wenn die Stadt noch ruht, abgesehen von den Bewegungen unter der Kruste, unter Tage, die unentwegt währen. Er hat eine Schwäche für die Vorstellung, dass sich gewissermaßen die Fensterläden, die Blüten, die Seelen öffnen, dass der Tag in die Natur, in den Menschen strömt wie ein junger Fluss, dessen Weg noch nicht vorbestimmt ist, Erfahrungen, die sich ihr Bett neu graben.
Er schließt seine Augen.
Es wird Zeit, etwas zu tun. Er arbeitet an einem Bericht über britische Subkultur, moderne Musik und Drogen. Auswüchse, die derzeit nach Berlin, nach Hamburg, in die Großstädte schwappen, möglicherweise bald auch nach Bergborn. Da gibt es Übriggebliebene, die Sartre lesen, Rollkragen und Hornbrillen tragen und über den Existenzialismus diskutieren, da gibt es junge Musiker, die ihren englischen Vorbildern nacheifern, sich die Haare wachsen lassen und auf ihren Instrumenten den Blues der Neger kopieren, wie man samstags im TV-Beat Club sieht, da gibt es Studenten, die der Bourgeoisie mit fanatischen Leitsätzen entgegentreten. Sie alle erhalten regelmäßig Besuch von sogenannten Dealern – wieder so ein neues englisches Wort! - die diese Generation mit Haschisch oder Marihuana versorgen, eine Droge, deren süßliches Odeur nach Deutschland geweht ist.
Mike liest noch ein paar Seiten in der letzten Ausgabe des Spiegels , einen Bericht von Rudolf Augstein, in dem es um eine Studentengruppe geht, die sich Kommune I nennt, blättert durch die Welt , die sich mit dem SDS [9] und dessen aktueller Anti-Vietnam-Demonstration in Berlin befasst, analysiert eine Kolumne in der aktuellen konkret zum Thema Vietnam und die Deutschen, den - wie könnte es anders sein! - die bemerkenswerte Ulrike Meinhof geschrieben hat, leert den Kaffeerest und öffnet die Tür, damit der Zigarettenqualm abziehen kann.
Gegen zehn Uhr fahren vor dem Schaufenster des Ladenlokals Mopeds vor und seine Mitarbeiter beenden Beschaulichkeit und Konzentration. Worte schwirren durch das Büro, Kaffee wird gekocht, Zigaretten geraucht und über Fußball diskutiert.
Gegenüber, vor dem Redaktionsbüro der Rundschau, kommen ein Mann und ein Junge mit Brille an. Der Junge hat eine Mappe in den Händen, der Mann – es könnte sein Vater sein! – legt dem Jungen eine Hand auf die Schulter und gestikuliert mit der anderen Richtung Büroeingang. Der Junge macht einen, zwei Schritte dorthin, dreht sich wieder um, schüttelt den Kopf, der Mann zieht gottergeben die Schultern hoch, wendet sich ab, verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust, der Junge tänzelt verlegen von einem Fuß auf den anderen, dann scheint er sich ein Herz zu nehmen, dreht sich um, steigt die zwei Stufen hoch und tritt ein.
Als Mike den Mann genau anschaut, durchzuckt ihn ein Schlag. Er kennt ihn. Er kennt ihn ganz gewiss! Aber woher?
Johannes und Eberhard sind zu Außenterminen unterwegs und Marita hält die Stellung. »Der junge Mann da wartet auf dich«, sagt sie.
»Hallo.« Mike reicht ihm die Hand – einen ganz schönen Händedruck hat das Bürschchen! – und stellt sich vor. »Ich heiße Mike und leite die Redaktion.«
»Ich heiße Thomas Wille.«
»Und draußen wartet dein Vater?«
»Ja.«
»Mmmh – warum kommt er nicht mit rein?«
»Er hat mich nur begleitet.«
»Und was kann ich für dich tun?«
»Ich, ich ...«
»Möchtest du was trinken?«
»Ich, ja ... gerne.«
»Marita, hol mal ne Sinalco! Ist noch ziemlich warm hier drin, da trocknet die Kehle aus. Nun setz dich. He, du drückst da was an dich. Ist das für mich?«
»Das da? Ach das. Ja, das habe ich geschrieben.«
»Mmmh – du bist ein Schriftsteller?«
»Mir fallen manchmal Geschichten ein.«
»Wie alt bist du?«
»Dreizehn, fast vierzehn.«
»Und du möchtest mir das zeigen?«
»Ja, Mike. Das würde ich gerne. Wissen Sie ... oh, vielen Dank für die Sinalco ... vielen Dank. Wissen Sie, ich dachte, Sie brauchen Geschichten für die Wochenendbeilage, für die Jugendseite.«
»Mmmh, mmmh. Dafür müsste ich das erst mal lesen.«
»Lesen? Na klar müssen Sie das. Na klar. Oh, entschuldigen Sie, bitte, nehmen Sie ...«
»Eine Geschichte über einen Wolf? So etwas wie von Jack London?«
»Ich weiß nicht, ein bisschen trauriger vielleicht.«
»In Ordnung, Thomas. Lasse mir etwas Zeit, ich lese mal eben drüber. Mmmh, ist ja sehr spannend. Möchtest du noch ein Glas Sinalco?«
»Tolles Foto da
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