Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Alles auf Anfang: Roman (German Edition)

Titel: Alles auf Anfang: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
Vom Netzwerk:
besten Geschichten schreibt das Leben!
    Alle waren sie zugegen. Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel, Gerhard Stoltenberg, Rainer Barzel und Helmut Kohl, ein schlanker Riese, der Mike mit Misstrauen durch seine Hornbrille musterte.
    Der Vater des Wirtschaftswunders, der vor zwei Jahren das Ende der Nachkriegszeit ausgerufen hatte, entzog sich dem Kartenspiel, stand vor dem Fenster des Kanzlerbungalows und blickte in das verblassende Blau des Tages.
    Seinen politischen Mitstreitern schien dieses Verhalten nicht neu zu sein. Mike meinte, sie unter den Schwaden von Zigarrendampf spöttische Blicke wechseln zu sehen.
    »Er denkt mal wieder«, flüsterte Stoltenberg.
    »Wenn er nicht mitspielt, lassen wir das mit dem Skat. Lasst uns pokern«, setzte von Hassel hinzu, stäubte seine Zigarre ab und teilte Karten aus. »Der Mindesteinsatz beträgt eine Mark, meine Herren.«
    Mike traute weder Augen noch Ohren, wohingegen Lackmund ganz gelassen war und seine Fragen stellte und auf Antworten wartete, die Mike behände stenografierte. Das Ganze wurde immer bizarrer. Hier, im legendären Palais Schaumbad , das die Öffentlichkeit mit mildem Sarkasmus so nannte, weil Erhard es gewagt hatte, sich einen Pool einbauen zu lassen, hier an diesem Nierentisch bahnte sich eine muntere Pokerrunde an.
    Im Hintergrund rauchte Erhard eine Zigarre, in sich ruhend, trotz seiner Körpermasse zerbrechlich wirkend. Mike wusste, dass Erhard von vielen Freunden und Gegnern belächelt wurde. Man mutmaßte, er sei zu weich für das Kanzleramt. In diesem Moment spürte Mike die Einsamkeit des Bundeskanzlers, das dessen Profil eine tragische Aura umwehte.
    Ja, das Volk liebt Erhard, seine Loyalität und Ehrlichkeit, jene Wesensarten, für die man ihn den guten Menschen nennt. Aber man will ihn nicht mehr in seinem Amt. Seine Freunde hoffen, er könne im September, wenn er Präsident Johnson in den USA besuchen würde, Boden gut machen. Seine Gegner, die ihm nie die Polemik verziehen hatten, mit der er SPD-Intellektuelle wie Günter Grass oder Rolf Hochhuth als kleine Pinscher, die in dümmlicher Weise kläffen, bezeichnet hatte, erwarten, Johnson würde Erhard ein Beinchen stellen.
    »Es ist die Bergbaukrise, unter der Nordrhein-Westfalen leidet«, sagte von Hassel. »Das setzt ihm zu.«
    »Immer mehr Bundesbürger heizen mit billigem Heizöl«, fügte Barzel hinzu. »Der Absatz der teuren Kohle stagniert. Wie Sie wissen, Herr Stern, sterben im Ruhrgebiet die Zechen und es gibt fast zweihunderttausend Arbeitslose.« Er legte zwei Karten ab. »Ich kaufe.«
    »Sehen Sie sich doch die Kumpel ohne Arbeit an. Die demonstrieren und schwenken schwarze Fahnen«, sagte Stoltenberg und schob fünfzig Pfennig in die Tischmitte.
    Als Horst Lackmund nachhakte, ob man befürchte, es könne sich im November ein politischer Wandel vollziehen, in Richtung einer Großen Koalition letztmöglich, versagten mir diese hochrangigen Politiker ein paar Minuten die Aufmerksamkeit. Sie pokerten konzentriert, bis Barzel sagte: »Der Bundeskanzler meint, Wohlstand zu bewahren sei noch schwerer, als ihn zu erwerben«. In seinen Augen funkelte es. »Ich passe, liebe Kollegen.«
    Kohl strich das Geld ein, grinste wie ein Säbelzahntiger und sagte: »Er vertraut der privaten Initiative. Sie sei die stärkste Kraft, um aus den jeweiligen Gegebenheiten den höchsten Effekt herauszuholen.«
    »Hat er nicht recht damit?«, fragte der Chefredakteur und teilte ein neues Blatt aus.
    »Wer weiß«, antwortete der Pfälzer und erneut schauderte es Mike vor der bulligen Präsenz des Mannes.
    Stimmte es, wenn man über Erhard sagte, er sei menschlich sympathisch, jedoch politisch naiv? Mike fand an diesem Abend keine Antwort darauf.
    Mitfühlend erinnert Mike Stern sich an diesen Mann, an dessen solides Charisma, an die von Zigarrenqualm umnebelte Silhouette am Fenster. Zu anständig für die Politik – kann es das geben? Man lernt eben nie aus.
    Die Sonne schiebt sich über die Häuserdächer, Vögel jubilieren im Geäst der Bäume. Die Luft riecht feucht, frisch und jung. Regenwolken ziehen auf, ein milder Wind hat die Schwüle der Sommernacht vertrieben.
    Lieferwagen fahren vor und fleißige Hände laden die Zeitungsbündel auf. In weniger als dreißig Minuten werden die ersten Bürger von Dortmund, bis Bergborn und Umgebung, die Rundschau im Briefkasten haben. Die heutige Titelseite beherrscht das Thema Fußball.
    Wer wird morgen Weltmeister? England? Deutschland? Wird es abermals ein

Weitere Kostenlose Bücher