Alles auf Anfang
nickte und reichte Leksi die Flaschen. »Bring sie wieder hin, wo sie hingehören.«
Als Leksi nach oben kam, hörte er die anderen in der Bibliothek. Er ging hinein und sah, dass die alte Frau auf dem Sofa saß, mit den Fingern an ihrer schwarzen Kamee spielte. Es war schwer zu glauben, dass sie einmal schön gewesen war. Die schlaffe Haut an Gesicht und Hals war runzelig und voller Altersflecken. Zu ihren Füßen lag das aufgehäufte Silberzeug, glänzte im Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinfiel.
Surchow hatte ein ledergebundenes Buch aus einem Regal gezogen und blätterte darin, leckte sich jedes Mal die Fingerspitzen ab, bevor er eine neue Seite aufschlug. Nikolai saß der Frau gegenüber auf dem Boden, den Rücken an der Marmoreinfassung des offenen Kamins. Er hielt einen Schürhaken in den Händen. Das Foto im Silberrahmen stand noch immer auf dem Kaminsims. Leksi wartete unter der Tür, fragte sich, ob die alte Frau das Bild sah. Er wünschte, er hätte es nicht von seinem Platz entfernt. Es erschien ihm geradezu niederträchtig, die schöne junge Frau zu zwingen, ihre eigene Zukunft vor sich zu sehen. Der
Wodka, den Leksi noch vor wenigen Minuten mit so großem Genuss getrunken hatte, brannte ihm nun im Magen.
»Lass das«, sagte die alte Frau. Die Soldaten sahen sie an. »Das«, sagte sie aufgebracht und leckte ihre Fingerspitzen ab, wie Surchow es getan hatte. »Du machst das Papier kaputt.«
Surchow nickte, lächelte sie an und stellte das Buch zurück ins Regal. Nikolai stand auf, noch immer den Schürhaken in den Händen, und gab Leksi ein Zeichen. Er führte ihn hinaus in den Flur und machte die Türen der Bibliothek hinter ihnen zu. Sie gingen ins Speisezimmer. Die schmutzigen Teller, übersät mit abgebrochenen Hühnerknochen, standen noch mitten auf dem Tisch. Nikolai und Leksi sahen durch die hohen Fenster hinaus auf das schneebedeckte Tal.
Nikolai seufzte. »Das Ganze ist nicht angenehm, aber sie ist alt. Sie hätte jetzt kein schönes Leben mehr. Gib sie ihrem Allah zurück.«
Leksi drehte sich um und blickte den älteren Soldaten an. »Ich?«
»Ja«, sagte Nikolai und ließ den Schürhaken in seinen Händen herumwirbeln. »Es ist sehr wichtig, dass du es machst. Hast du schon mal jemand erschossen?«
»Nein.«
»Gut. Dann ist sie die Erste. Ich weiß ja, Aleksandr, dass du keine alte Frau töten willst. Das will keiner von uns. Aber überleg mal. Soldat zu sein bedeutet nicht, dass man die Leute tötet, die man töten möchte. Natürlich wäre es schön, wenn wir nur Leute erschießen würden, die wir hassen. Aber diese Frau ist der Feind. Sie hat Feinde geboren, und die werden weitere Feinde zeugen. Sie kauft ihnen Waffen und Lebensmittel, und die schlachten unsere Männer ab. Die Leute
hier«, sagte er, nach oben zur Decke deutend, »das sind die reichsten in der Region. Sie finanzieren die Rebellen seit Jahren. Sie schlafen in ihrer seidenen Bettwäsche, während die Minen, die sie bezahlt haben, unseren Freunden die Beine abreißen. Sie trinken ihren französischen Wein, während ihre Bomben in unseren Kneipen und Restaurants explodieren. Diese Frau ist nicht unschuldig.«
Leksi wollte etwas sagen, doch Nikolai schüttelte den Kopf und berührte Leksis Arm leicht mit dem Schürhaken. »Nein, da gibt es nichts zu diskutieren. Wir plaudern hier nicht miteinander. Geh mit ihr raus und erschieße sie. Nicht auf dem Anwesen, ich will nicht, dass die Amseln kommen. Das bringt Unglück. Geh mit ihr in den Wald und erschieße sie und begrabe sie.«
Sie schwiegen einige Zeit, betrachteten den See in der Ferne, betrachteten die Schneefahnen, die über den Tannen herumwirbelten. Schließlich fragte Leksi: »Wie alt warst du? Beim ersten Mal?«
»Als ich zum ersten Mal jemand erschossen habe? Neunzehn.«
Leksi nickte und machte den Mund auf, vergaß aber, was er hatte sagen wollen. Schließlich fragte er: »Gegen wen haben wir damals gekämpft?«
Nikolai lachte. »Was glaubst du wohl, wie alt ich bin, Aleksandr?«
»Fünfunddreißig?«
Nikolai lächelte breit, ließ seine schiefen Zähne blitzen. »Vierundzwanzig.« Er drückte Leksi die Spitze des Schürhakens hinten ins Genick. »Genau da muss die Kugel rein.«
Als sie die alte Frau in den Windfang brachten und sie aufforderten, ihre Stiefel anzuziehen, starrte sie die Soldaten an, die zitternden Hände seitlich an den Körper gelegt. Geraume Zeit starrte sie sie unverwandt an, und Leksi fragte sich, was sie mit ihr gemacht
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