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Alles auf Anfang

Alles auf Anfang

Titel: Alles auf Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benioff David
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hätten, wenn sie noch jung und schön gewesen wäre. Und dann fragte er sich, was sie tun würden, falls sie sich einfach weigerte, ihre Stiefel anzuziehen. Womit konnten sie ihr drohen? Würden sie sie gleich hier erschießen und dann in den Wald tragen? Er hoffte, dass das passieren würde, dass sie sich auf den Boden werfen und sich weigern würde aufzustehen und Nikolai und Surchow gezwungen wären, sie zu erschießen. Doch das tat sie nicht, sie starrte sie einfach an und nickte schließlich, als willige sie in etwas ein. Sie setzte sich auf die Bank neben der Tür und zog ein Paar pelzgefütterte Stiefel an. Sie schienen ihr zu groß zu sein, wie einem Kind, das die Stiefel seiner Mutter anprobiert. Sie schob die silberne Kette mit der schwarzen Kamee unter ihr Kleid und zog einen Pelzmantel an, der aus den dunklen Fellen eines Tieres gemacht war, dessen Namen Leksi nicht kannte.
    An der Wand hing, das Blatt nach oben, eine schwere Schneeschaufel zwischen zwei Haken. Surchow holte sie herunter und reichte sie der alten Frau. Sie nahm sie ihm aus der Hand und ging wortlos zur Tür hinaus. Leksi sah seine Kameraden an, hoffte, sie würden ihm sagen, dass alles ein Scherz war, dass niemand heute getötet wurde. Nikolai würde ihn in den Arm boxen und ihm sagen, dass er ein Dummkopf war, und alle würden lachen; die alte Frau würde lachend wieder im Windfang erscheinen - sie war eingeweiht, das Ganze war ein toller Streich. Doch Surchow und Nikolai standen nur da, noch immer barfuß, die Mienen ausdruckslos,
und warteten darauf, dass er ging. Leksi verließ das Haus und machte die Tür hinter sich zu.
    Die alte Frau zog die Schaufel hinter sich her wie einen Schlitten. Der Schnee reichte ihr bis zu den Knien; sie musste andauernd stehen bleiben und sich ausruhen. Sie holte ein paarmal tief Luft und ging dann weiter, wobei das Blatt der Schaufel über ihre Fußstapfen hüpfte. Sie blickte sich nie um. Leksi folgte drei Schritte hinter ihr, das Gewehr in der Hand. Er folgte ihr zum Gartentor hinaus und wies sie an, nach rechts zu gehen, und das tat sie, und sie gingen um die Mauer herum zur Vorderseite des Anwesens und dann den Hügel hinunter.
    Wenn sie stehen blieb, starrte Leksi jedes Mal auf ihren Hinterkopf, auf den grauen, mit Haarnadeln festgesteckten Knoten, und wurde immer wütender. Warum war sie im Haus zurückgeblieben, als alle anderen weggingen? Man hatte sie nicht ihrem Schicksal überlassen. Jemand hatte ihr in das Versteck hinuntergeholfen; jemand hatte den Billardtisch über die Falltür gezerrt. Es musste pure Habgier gewesen sein, die Weigerung, den ganzen Plunder aufzugeben, den sie im Laufe der Jahre angehäuft hatte, ihr Kristall und ihr Silber und ihren französischen Wein und alles. Die anderen hatten sie bestimmt gedrängt mitzukommen. Aber sie war stur; sie wollte keine Vernunft annehmen; sie war eine Fanatikerin.
    »Warum bist du dageblieben?«, fragte er schließlich. Er hatte nicht die Absicht gehabt, mit ihr zu reden; die Frage kam ihm ungewollt über die Lippen.
    Sie drehte sich langsam um und sah zu ihm hoch. »Weil es mein Haus ist«, sagte sie. »Warum bist du hergekommen?«

    »Schon gut«, sagte er und richtete das Gewehr auf sie. »Geh weiter.« Er rechnete nicht damit, dass sie ihm gehorchen würde, aber sie tat es. Sie gingen inzwischen bergab in Richtung der Stelle, an der die drei Soldaten ihre Rucksäcke versteckt hatten, weniger als einen Kilometer weiter; Leksi wollte sie später mit nach oben nehmen, um Surchow und Nikolai den Weg zu ersparen. Bestimmt würde es mühsam sein, drei Rucksäcke bergauf zu schleppen, aber er dachte, dass es bei Weitem angenehmer sein würde als dieser Weg bergab. Denn Leksi zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass das, was er da tat, eine Sünde war. Es war verwerflich. Er war im Begriff, einer alten Frau einen Genickschuss zu geben, zuzuschauen, wie sie vornüber in den Schnee fiel, und sie dann zu begraben. Es gab dafür kein anderes Wort als verwerflich.
    Er hatte schon lange den Verdacht, dass er ein Feigling war. Sein älterer Bruder hatte ihm abends oft Geistergeschichten erzählt, und danach lag Leksi stundenlang wach. Manchmal rüttelte er seinen Bruder wach und ließ sich von ihm versichern, dass die Geschichten erfunden waren. Und sein Bruder sagte dann: »Aber ja, Leksi, aber ja, alles nur erfunden«, und hielt seine Hand, bis er einschlief.
    »Sie haben dich ausgewählt, weil du noch fast ein Kind bist«, sagte die alte Frau,

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