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Alles auf Anfang

Alles auf Anfang

Titel: Alles auf Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benioff David
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und Leksi kniff die Augen zusammen, um sie im grellen Sonnenschein anzuschauen, der vom Schnee reflektiert wurde.
    »Weitergehen.«
    Sie war gar nicht stehen geblieben, und sie sprach einfach weiter. »Sie stellen dich auf die Probe. Sie wollen wissen, wie stark du bist.«

    Leksi sagte nichts, schaute nur zu, wie die Schaufel den Hang hinunterhüpfte.
    »Es interessiert sie nicht, ob ich lebe oder sterbe, und das weißt du. Warum sollte es sie interessieren? Schau mich an, was kann ich schon tun? Aber sie wollen dich auf die Probe stellen. Merkst du das nicht? Du bist schlau, da musst du das doch merken.«
    »Nein«, sagte Leksi. »Ich bin nicht schlau.«
    »Ich auch nicht. Aber ich lebe seit siebzig Jahren mit Männern unter einem Dach. Ich kenne mich mit Männern aus. Die beiden beobachten uns.«
    Leksi blickte den Hügel hinauf, zu der Villa auf dem Gipfel. Er vermutete, dass sie recht hatte, dass Nikolai sie durch das Fernglas beobachtete. Als er sich wieder umdrehte, stapfte die alte Frau noch immer ungerührt weiter, während Atemwolken über ihrem Kopf aufstiegen. Sie schien sich jetzt leichtfüßiger zu bewegen, und Leksi kam zu dem Schluss, dass sie besser in Form war, als sie vorgegeben hatte, dass ihre ständigen Pausen nicht von der Erschöpfung herrührten, sondern vielmehr ein Versuch waren, das, was ihr bevorstand, hinauszuzögern. Er konnte es verstehen. Auch er fürchtete sich vor dem Ende.
    »Aber am Fuß des Hügels«, sagte die alte Frau, »können sie uns nicht mehr sehen. Dort kannst du mich gehen lassen. Das erwarten sie von dir. Wenn sie gewollt hätten, dass du mich tötest, hätten sie dich dann alleine gehen lassen? Warum hätten sie sonst gewollt, dass du mich so weit wegbringst, außer Sichtweite?«
    »Sie wollen nicht, dass die Amseln ans Haus kommen«, sagte Leksi, und als er es sagte, wurde ihm klar, dass es keinen
Sinn ergab. Er würde sie begraben. Warum sollten die Amseln kommen? Außerdem war Nikolai kein abergläubischer Mensch.
    Die alte Frau lachte, dass der graue Knoten in ihrem Nacken auf und ab hüpfte. »Die Amseln? Das haben sie gesagt, wegen der Amseln? Das war ein Scherz, Junge. Wach auf! Die spielen mit dir.«
    »Großmütterchen«, sagte Leksi, doch dann fiel ihm nichts mehr ein. Sie blieb stehen und drehte sich wieder um, sah ihn lächelnd an. Sie hatte noch alle Zähne, aber sie waren gelblich und lang geworden. Der Anblick ihrer Zähne machte Leksi wütend; er rannte zu ihr hinunter und rammte ihr die Mündung seines Gewehrs in den Bauch.
    »Du sollst weitergehen!«, brüllte er sie an.
    Als sie auf halber Höhe des Hügels waren, fragte sie: »Wie sollen meine Enkelkinder wissen, wo sie hingehen müssen?«
    »Was?«
    »Wenn sie mein Grab besuchen wollen, wie sollen sie wissen, wo es ist?«
    »Ich bringe eine Markierung an«, sagte Leksi. Er hatte nicht die Absicht, eine Markierung anzubringen, aber was hätte er sonst auf diese Frage antworten sollen? Sein Zorn war bereits verraucht, und er ärgerte sich über sich selbst, dass er ihn so schnell hatte verfliegen lassen.
    »Jetzt?«, fragte sie. »Was soll das nützen? Wenn der Schnee schmilzt, fällt die Markierung um.«
    »Dann bringe ich eben im Frühjahr eine an.« Er wusste, dass sich das für die Frau ebenso absurd anhörte wie für ihn selbst, aber falls sie sein Versprechen für grotesk hielt, so ließ sie sich nichts davon anmerken.

    »Mit meinem Namen darauf«, sagte die alte Frau. »Tamara Schaschani.« Sie buchstabierte Vor- und Nachnamen und ließ Leksi dann beide wiederholen.
    Leksi hatte in der Schule ein Mädchen namens Tamara gekannt. Sie war dick und sommersprossig und lachte wie ein wiehernder Esel. Es erschien ihm unvorstellbar, dass diese Frau und jenes Mädchen den gleichen Namen hatten.
    »Und meine Heimatstadt«, fuhr die alte Frau fort. »Schreib den auch auf das Kreuz. Dschochar-Chala.«
    »Du meinst Grosny.«
    »Nein, ich meine Dschochar-Chala. Ich bin da geboren, ich weiß, wie die Stadt heißt.«
    Leksi zuckte die Schultern. Er war vor vier Tagen in dieser Stadt gewesen. Die Tschetschenen nannten sie Dschochar-Chala; die Russen nannten sie Grosny; die Tschetschenen waren vertrieben worden; die Stadt hieß also Grosny.
    »Hör mal«, sagte die alte Frau. »Hast du alles behalten?«
    »Tamara Schaschani. Aus Dschochar-Chala.«
    Leksi ging hinter ihr her, die Augen halb geschlossen. Das grelle Sonnenlicht verursachte ihm Kopfschmerzen. Das Blatt der Schaufel zog eine schmale Spur durch den

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