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Alles auf Anfang

Alles auf Anfang

Titel: Alles auf Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benioff David
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Porzellanlampen. Unter einer der Lampen stand eine Teetasse samt Untertasse. Der Rand der Tasse war mit rotem Lippenstift verschmiert, und in die Untertasse war Tee geschwappt.
    An der einen Wand stand eine schwere schwarze Frisierkommode mit Messinggriffen. Auf der Frisierkommode befanden sich Pillenfläschchen, eine Bürste, in der lange graue Haare hingen, eine Porzellanschale mit Münzen, ein geschliffener Parfümflakon, ein Tiegel mit einer aufdringlich riechenden Gesichtscreme und mehrere Fotografien in Silberrahmen. Eines der Fotos sprang Leksi ins Auge, und er nahm es in die Hand. Eine Frau mit rabenschwarzem Haar
blickte in die Kamera. Sie wirkte leicht gelangweilt, aber doch willens, mitzuspielen, der gleiche Ausdruck, den Leksi in den Gesichtern aller schönen jungen Ehefrauen in seiner Heimatstadt sah. Ihre dunklen Augenbrauen standen dicht beisammen, ohne sich jedoch zu berühren.
    Beim Betrachten des Fotos hatte Leksi das unheimliche Gefühl, dass die Frau gewusst hatte, dass man sie so sehen würde. Als hätte sie damit gerechnet, dass der Tag kommen werde, viele, viele Jahre nach dem Klicken des Auslösers, an dem ein Fremder mit einem Gewehr über der Schulter seine Taschenlampe auf ihr Gesicht richten und sich fragen werde, wie sie wohl hieß.
    Er durchsuchte die übrigen Räume des Stockwerks und ging dann nach unten, ohne zu merken, dass er noch immer das gerahmte Foto in der Hand hatte, bis er die dunkle Bibliothek betrat. Er sah ein Streichholz aufflammen und leuchtete mit seiner Taschenlampe in die entsprechende Richtung. Surchow und Nikolai hatten sich auf dem Ledersofa ausgestreckt, ihre Stiefel und Socken abgestreift, die stinkenden nackten Füße auf die Glasplatte des Couchtischs gelegt. Sie hatten ihre Parkas und Pullover ausgezogen; ihre Unterhemden waren voller Schweißflecken. Beide rauchten Zigarren. Auf dem Boden neben ihnen war Silberzeug aufgehäuft, das kühl wie Mondlicht schimmerte, als Leksi seine Taschenlampe darauf richtete: Tabletts und Kerzenständer, Suppenterrinen und Schöpflöffel, Serviettenringe und Kannen. Leksi fragte sich, wie die beiden die ganze Beute nach Hause schleppen wollten. Vielleicht hatten sie das gar nicht vor, vielleicht gefiel ihnen nur der Anblick, dieser aufgehäufte Schatz. Eine gut sechzig Zentimeter große blonde Porzellanpuppe, die ein
weißes Nachthemd trug, saß auf Nikolais Schoß. Seine Hand massierte die Schenkel der Puppe. Er zwinkerte Leksi zu.
    »Wird dir nicht heiß?«
    Ihm war tatsächlich heiß. Leksi hatte so lange gefroren, dass die Wärme eine Wohltat gewesen war, doch nun lehnte er sein Gewehr an ein Bücherregal, stellte das Foto vorsichtig auf den Kaminsims und schlüpfte aus seinem Parka.
    »Die müssen es ziemlich eilig gehabt haben«, sagte Surchow. »Lassen den Strom an, lassen die Heizung an.« Er begutachtete die glühende Asche am Ende seiner Zigarre. »Lassen die Zigarren da.«
    Nikolai beugte sich vor und nahm eine Zigarrenkiste vom Couchtisch. »Da«, sagte er zu Leksi. »Bedien dich.«
    Leksi wählte eine Zigarre, biss das Ende ab, zündete sie an und legte sich auf den kleinen Teppich vor dem kalten Kamin. Er machte seine Taschenlampe aus. Sie pafften in der Dunkelheit und schwiegen geraume Zeit. Es war schön, so dazuliegen, in dem warmen Haus, und eine gute Zigarre zu rauchen. Sie hörten dem böigen Wind draußen zu. So sicher hatte sich Leksi seit Wochen nicht gefühlt. Die beiden anderen fassten ihn hart an, gewiss, aber sie wussten, was sie taten. Sie machten ihn zu einem besseren Soldaten.
    »Leksi«, sagte Surchow schläfrig. »Leksi.«
    »Ja?«
    »Als du den Kühlschrank aufgemacht hast, was hast du da gesehen?«
    Leksi dachte, dass das vermutlich wieder ein Trick war. »Schau«, sagte er, »es tut mir leid wegen …«
    »Nein, war was im Kühlschrank drin? Hast du was gesehen?«
    »Alles Mögliche. Ein Huhn.«

    »Ein Huhn«, sagte Surchow. »Roh oder gebraten?«
    »Gebraten.«
    »Sah es gut aus?«
    Aus irgendeinem Grund fand Leksi diese Frage sehr komisch und begann zu lachen. Nikolai lachte ebenfalls, und schon bald schüttelten sich alle drei vor Lachen.
    »Also so was«, sagte Nikolai und erweckte seine Zigarre mit einem Zug wieder zum Leben.
    »Ganz ehrlich«, sagte Surchow. »Hat es ausgesehen, als ob es schon monatelang rumliegt?«
    »Nein. Es sah eigentlich sehr gut aus.«
    Leksi lehnte sich zurück, die Hände im Nacken verschränkt, und dachte an das Huhn. Dann dachte er an seine Füße. Er

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