Alles auf Anfang
stimmt’s?«
»Was?«
»Woher kommen Sie?«
Er grinste, klimperte mit dem schweren Schlüsselring an seinem Gürtel. »Aus Bethlehem, Pennsylvania. Wieso, hab ich noch Heu im Haar?« Sein Bethlehem hatte zwei Silben: beth-lem .
Wir waren inzwischen im Innenhof, einem wunderschönen säulengeschmückten Raum mit einem tonnenförmigen Glasdach und einem Springbrunnen in der Mitte, wo wasserspeiende Steinfrösche ein riesiges marmornes Seerosenblatt säumten. Ich setzte mich auf eine Bank und schaute den Fröschen zu. Der Wärter stellte sich hinter mich, nestelte an seiner schwarzen Krawatte herum. Er schien einsam zu sein. Oder schwul. Oder beides.
»Dann sind Sie wohl Künstler?«, fragte ich ihn. »Gehen Sie hier auf die Schule?«
»Nö. Wenn man den ganzen Tag hier drin ist, kann man abends bestimmt keine Farbe mehr sehen. Ich jedenfalls nicht.«
»Schauspieler?«
»Nein, nichts in der Art. Es ist …«
Wir sahen den Löwen gleichzeitig, der auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs durch die Kolonnade tappte, gelbe Augen, die im Schatten glommen, Krallen, die auf dem Fußboden klackten. Er rieb sich die Flanke an einer Säule, bevor er zum Springbrunnen humpelte. Der Löwe sah krank aus. Seine Mähne war verheddert und verfilzt; eine offene rote Wunde verunzierte eine seiner Schultern; seine Rippen schienen im Begriff, sich durch das räudige Fell zu bohren. Er starrte uns einige Sekunden lang an, bevor er das Maul ins Wasser tauchte und trank, mit der großen rosa Zunge die Froschspucke schlabberte. Sein Schwanz bewegte sich hin und her wie die Kobra eines Schlangenbeschwörers. Nachdem er seinen Durst gestillt hatte, blickte er wieder zu uns her und - ich schwöre es - zwinkerte. Dann ging er, wie er gekommen war.
»Löwe«, sagte der Wärter. Was hätte er sonst sagen sollen?
Eine Minute lang rührte sich keiner von uns. Wir hörten Schreie aus den anderen Räumen dringen. Menschen rannten in allen Richtungen durch den Innenhof, kreischten in fremden Sprachen. Ein kleines Mädchen in einem Kleid, das mit großen Sonnenblumen bedruckt war, stand allein unter der Kolonnade, die Hände auf die Ohren gepresst, die Augen fest zugedrückt.
Das Museum wurde für den Rest des Nachmittags geschlossen, und wir Augenzeugen mussten alle stundenlang Fragen beantworten - der Polizei, den Rangern vom Park Service, den Fernseh- und Zeitungsreportern. Ich wurde vor laufender Kamera interviewt und trat dann etwas zur Seite, um mir die Schilderungen der anderen anzuhören. Eine Gruppe von Schulkindern und Begleitpersonen aus Buffalo hatte gesehen, wie der Löwe das Museum durch die Eingangstür verließ, den Himmel absuchte wie ein Farmer, der auf Regenwolken hofft, und dann langsam Richtung Osten ging. Ein Fahrradkurier sichtete den Löwen in der Park Avenue und blieb prompt in einem Kanalgitter hängen, sodass er in hohem Bogen über den Lenker flog und mit dem Kopf auf den Bordstein knallte. Er sprach mit den Reportern, während ihm ein Sanitäter Mullbinden um die Stirn wickelte. Nach der Park Avenue schien sich die Spur des Löwen zu verlieren. Eine Sondereinheit der Polizei hatte die umliegenden Straßen abgesucht und nichts gefunden. Den New Yorkern wurde geraten, ihre Häuser bis auf Weiteres nicht zu verlassen, ein Rat, den niemand befolgte.
Nachdem alle Interviews vorbei waren, entdeckte mich der Museumswärter auf der Bank beim Froschbrunnen. »Das war ja was«, sagte er. »Ich brauche ein Bier. Wollen wir irgendwo ein Bier trinken?«
»Ja«, sagte ich. »O ja.«
Wir gingen ins Madison Pub, ein dunkles altes Speakeasy, wo die Namen schon lange toter Stammkunden in goldenen Buchstaben die Wände überzogen. Beim ersten Bier sprachen wir kaum miteinander, tauschten sogar unsere Namen erst aus, als das Essen kam.
»Louis Butchko«, sagte ich und wiederholte den Namen, um ihn mir besser merken zu können. Mein Vater hatte mir diesen Trick beigebracht.
»Mm.« Er kaute an einem gut durchgebratenen Cheeseburger. »Die meisten nennen mich Butchko.«
»Er hat uns zugezwinkert. Hast du es bemerkt? Der Löwe hat gezwinkert.«
»Hm?«
»Ich sage dir, ich habe ihn zwinkern sehen. Er hat uns direkt angeschaut und gezwinkert.«
»Kann schon sein. Ich hab’s nicht gesehen. Aber eins steht fest«, sagte er und leckte sich die Lippen ab, »von Löwen haben sie nichts erwähnt, als ich mich um die Stelle beworben habe. Die haben vor allem Angst, dass jemand die Bilder anfasst.«
»Er hat
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