Alles auf Anfang
kahlköpfig und vor Schmerzen schreiend? Es ist deine Mutter. Fast zehn Monate lang wohntest du in ihr und hast sie nur verlassen, weil die Ärzte dich ans Licht der Welt zerrten. Das wird in der Familie zur Legende, der Junge, der nicht geboren werden wollte.
Sie war eine schöne Frau, meine Mutter, und stark, und ich weiß nicht, warum ich sie nicht als schön und stark in Erinnerung habe. Jedes Mal wenn ich mir ihr Gesicht vorstelle, stelle ich mir ihr sterbendes Gesicht vor, die Sehnen an ihrem Hals, die unter der Haut hervorquellen, die Zähne, die sich in ihre Oberlippe graben. Dein Leben lang kennst du eine Person und liebst sie, und dann, innerhalb eines Jahres, mergelt eine Krankheit sie bis auf die Knochen aus. Vielleicht sollte ich dankbar sein, dass sie am Ende nicht allein war. So viele sterben, ohne dass es uns kümmert, verfallen schweigend in Räumen außer Hörweite. Wir ehren die Toten und hassen die Sterbenden.
Die Schmerzen löschten allmählich die vielfältigen Wesenszüge meiner Mutter aus, ließen sie zusammengekrümmt in einem Krankenhausbett liegen, wo sie versuchte, sich den Klauen in ihrem Inneren zu entwinden. Und was kannst du dagegen tun? Deine Mutter wird langsam umgebracht, und
du sitzt machtlos dabei und schaust zu. Es endet mit Schrecken, es endet damit, dass das Gehirn nicht mehr mit Sauerstoff versorgt wird, die Lippen blau werden und die Füße sich mit Wasser füllen. Es endet, wenn die Augen einer Mutter zu den Augen eines Fisches werden. Milliarden Male das gleiche Ritual, Milliarden von Söhnen, die ihre Mütter sterben sahen, ihnen die kalte Stirn küssten und weinten.
Wenn der Kummer unschuldig wäre, dann wäre alles einfacher, aber es liegt etwas Selbstsüchtiges in der Trauer, und ein gewisser Abscheu vor denen, die noch gesund und munter sind. Die Zerstreuungen von Freunden erscheinen einem schwachsinnig und ärgerlich, ihr Liebesleben grotesk, ihre Beschwerden belanglos. Nichts kann sich mit Kummer messen, und der Kummergebeugte weiß das, und ganz egal, wie tief das Loch ist, in das er fällt, er blickt dennoch auf die ignorante Masse herab, die nicht begreift, dass sie vom Tod umgeben ist.
Und wie prägte dieser Verlust meinen Charakter? Man braucht nur die entsprechenden Tasten zu drücken, schon hat man die Antwort, richtig? Genug davon. Für heute Schluss mit Schreiben. Das Thema meine Mutter wird besser zu den Akten gelegt.
Es gibt nichts Schönes mehr auf der Welt, nichts dort oben als Skelette: Skelette, die über den Gehweg schlendern, Skelette, die ihre Autos waschen, Skelette, die in den Nachtclubs tanzen, Skelette, die ihren Whiskey pur trinken, Skelette, die mit einem einzigen selbstmörderischen König bluffen, Skelette, die in der Klemme stecken, Skelette, die es im Hof miteinander treiben, Skelette, die mit Messer und Gabel essen, Skelette, die ihren Skelettkindern Schlaflieder singen.
Und die, die mich finden, was werden sie denken? Sie werden meine Knochen in dreitausend Jahren ausgraben und sich fragen, was für ein seltsames Wesen das wohl war.
Fangen wir bei Prometheus an. Der Titan, an einen Felsen gekettet zur Strafe dafür, dass er den Menschen das Feuer brachte. Jeden Tag stürzt ein Adler herab und frisst an seiner Leber. Die Schmerzen, so gibt man uns zu verstehen, sind unerträglich. Die Moral wird für die Begriffsstutzigen unter uns anschaulich dargelegt: Überschreite nie deine Grenzen.
Aber kann eine Empfindung ihre Klarheit bis in alle Ewigkeit bewahren? Letzten Endes hört Prometheus auf zu schreien. Er zieht sich von dem Schmerz in sein Inneres zurück, nach Jahren oder Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Das Leiden wird verdrängt, weggesperrt in einem Koffer auf dem Dachboden des Bewusstseins. Doch Prometheus ist noch immer an den Felsen gekettet. Und so beginnt er sich Dinge vorzustellen, von Freiheit zu träumen. Denkbar wäre es. Er erschafft fiktionale Städte und durchstreift sie, trinkt in fiktionalen Tavernen, verkehrt mit fiktionalen Geliebten. Und in einer dieser seltsamen Städte, als er in der Abenddämmerung auf einer einsamen Straße an den verlassenen Hafenanlagen entlanggeht, findet die Verwandlung statt: Prometheus ist sich nicht länger seiner Fiktion bewusst - die Fiktion hat ihn sich gänzlich einverleibt. Denkbar wäre es. Die Straßenschilder werden in der Maschinerie seines Geistes geprägt, aber er weiß nicht, dass er sie erschafft. Und die geschaffenen Wesen bevölkern nun eine ganze Welt,
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