Alles auf dem Rasen
früher zum Überfliegen der Leitartikel gebraucht haben –, werden Sie zum Chef Ihres eigenen Papiermülls. Genießen Sie die Unabhängigkeit von Verlagskrisen und halsabschneiderischen Preiskalkulationen. Schließlich kostet schon ein Abonnement der taz 28 Euro im Monat.
§ 4: Quellennachweis
Jeder Mensch hat gern Recht. Um Recht haben zu können, bedarf es allerdings des Anscheins von objektiver Wahrheit. Hier hat die Presse immer gute Dienste geleistet. Wissenschaftskritische Intersubjektivitätsdebatten, das philosophische Ringen um die Fragmentierung von Wirklichkeit und der Siegeszug postmoderner Beliebigkeit endeten abrupt vor den Türen der Zeitungsredaktionen. Ein Journalist sagt nicht: »Ich glaube …«, er sagt nicht einmal: »Meinen Informationen nach …« und schon gar nicht: »Man kann doch eigentlich nichts wissen.« Er sagt: »Das ist so und so.«
Eine stabile Faktengrundlage ist für jeden Besserwisser unentbehrlich. Besonders ein bekanntes Hamburger Nachrichtenmagazin, dessen Name wie jener Unseres Herrn im Alltagsgebrauch nicht direkt ausgesprochen werden sollte, arbeitete gemeinsam mit seinem Nachahmer FOCUS hartnäckig an der Abschaffung des Subjektiven zugunsten einer Welt aus Statistiken, Säulenmodellen und Tortendiagrammen. Wollte jemand im Verlauf einer Diskussion Zweifel am So-Sein der Dinge anmelden, konnte der Name des Allmächtigen ausnahmsweise direkt angerufen werden: »Das stand aber im SPIEGEL !«
Auch in diesem Sinn bringt die Entzeitung einen mächtigen Postmodernisierungsschub mit sich. Fernsehen und Internet als uneigentliche Medien vom Dienst werden der Zerschlagung des anachronistischen Objektivitätsmonopols nicht im Wege stehen. Gewöhnen Sie sich möglichst bald daran, Ihre Diskursbeiträge auf zeitgemäße Art zu formulieren. Beweisen Sie relativistische Weltsicht durch Verwendung des Konjunktivs II. Üben Sie folgende Sätze:
1. Das hätte im SPIEGEL gestanden haben können.
2. Die Existenz einer überregionalen Tageszeitung vorausgesetzt, würde meine Auffassung durch den Leitartikel vom heutigen Tag belegt werden.
3. Die folgende Behauptung wäre durch ein Tortendiagramm darstellbar und besitzt somit ein hohes Wahrheitspotential.
Testen Sie selbsterfundene Wendungen an Freunden und Bekannten. Wenn sich ein Gesprächspartner kopfschüttelnd abwendet, tun Sie dasselbe. Er hat diesen Artikel nicht gelesen.
§ 5: Einfalt
Nichts ist vielfältiger als Einfalt – wer einmal einen Falkplan besessen hat, weiß das. Der protestantische Bischof Spangenberg formulierte es vor 250 Jahren auf diese Weise: Heilge Einfalt, Gnadenwunder / tiefste Weisheit, größte Kraft / schönste Zierde, Liebeszunder / Werk, das Gott alleine schafft! – Spangenberg konnte nicht wissen, dass es eines Tages Menschen geben würde, die in der Lage sind, den Anzeigenteil der Leipziger Volkszeitung mit nur drei Knicken auf die Größe des interessantesten Immobilienangebots zusammenzulegen, um es sich in einer überfüllten Straßenbahn stehend vor die Augen zu halten. Ein erfahrener Zeitungsleser kann einen Haufen abgezogener Tapeten mit wenigen Handgriffen zu einem ordentlichen Heftchen falten. Mit viel Übung gelingt es ihm, einen Fortsetzungsartikel im Herald Tribune bis zum Ende zu verfolgen, ohne die Schere zu Hilfe zu nehmen. Fortgeschrittene können eine bereits gelesene Ausgabe der ZEIT so zusammensetzen, dass Wirtschaftsteil, Wissen, Feuilleton und Literatur in richtiger Reihenfolge zu liegen kommen. Man sagt, ein fanatischer Zeitungsfreak habe nach vierzigjährigem Abonnement der New York Times das Telephonbuch von Manhattan auf Briefmarkengröße geknifft.
Spätestens an dieser Stelle werden Sie fragen, wofür das gut sein soll. Die einfache Antwort lautet: Im Zeitalter von GPS gehört die Disziplin des Einfaltens in den Bereich des l’art pour l’art . Falls das kunstvolle Knicken von Papier eine meditative Wirkung auf Sie ausübt, schlage ich folgende Übersprungshandlungen vor:
1. Räumen Sie Ihren Schreibtisch auf.
2. Belegen Sie einen Origami-Kurs an der Volkshochschule.
3. Verschenken Sie eine Espressomaschine ohne Karton und packen Sie den Gegenstand formgenau in Geschenkpapier ein.
Vor allem aber sollten Sie sich darüber klar werden, dass Sie Ihre Gottesähnlichkeit à la Spangenberg auch auf moderne Weise unter Beweis stellen können, zum Beispiel durch das Programmieren eines Videorecorders. Denn: »Wie viele ihn aber aufnahmen , denen gab er Macht,
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