Alles auf dem Rasen
einer leeren Kiste, und so werde die schönste Sache der Welt erträglich, stellenweise sogar zum literarischen Genuss. Jenseits der Gähn- und Überdrussgrenze bestehe noch Hoffnung, dass das, was wir heute Pornographie nennen, zum Träger von Geheimnissen, Bedeutungen, zum Vermittler von irgendetwas über sich selbst Hinausweisendem mutieren kann.
Einverstanden – weitermachen. Aber nicht vergessen, von Zeit zu Zeit ins pralle Leben zu greifen, denn wo man’s packt, ist’s …
»Genau«, unterbricht F., »wie steht es damit?«
Man liest, das Lotterleben halte Einzug in die Reihenhäuser. Partnertausch, Pornogucken und Peepshow seien für Bausparversicherte längst nicht mehr tabu. Im Gegenteil werde die Ausschweifung zur Neuform des Spießertums, als Anpassung nämlich, als Massenmimikry in der allgegenwärtigen Spaß- und Erlebniskultur. Billiger als Extremsport ist Sex allemal, und vielleicht verspricht er den letztmöglichen Kick nach erfolgreicher Durchnudelung sämtlicher Fun-Techniken. Überraschend ist nur, dass Trendscouts heute aufgeregt durch die Schlüssellöcher eines zügellosen Zeitgeistes spähen, während sie vor wenigen Jahren noch die Wiedergeburt der Prüderie besangen. Man sei wieder monogam, lautete die damalige Diagnose, die Jüngsten und Knackigsten unter uns gingen unberührt in die Ehe und wählten zu allem Überfluss CDU. Freiwillig.
In Wahrheit, weiß F., sind unsere schnellen Zeiten gar nicht so schnell.
Die allumfassende Unübersichtlichkeit entstamme vielmehr dem medial flackernden MTV-Blick auf Moden und Mentalitäten. Immer schon gehe der eine lieber in die Kirche, der andere ins Bordell und der dritte beides abwechselnd. Gleichzeitig sorge die kontinuierliche Liberalisierung dafür, dass alle drei es nicht mehr ganz so heimlich tun. So what ?
»Wir sollten zwei Phänomene trennen«, wende ich altklug ein.
Auf der einen Seite praktiziert, konsumiert oder ignoriert eine unaufgeregte Gesellschaft unter der Maxime »Jeder, wie er will« ihre wachsenden sexuellen Möglichkeiten, vorsichtig enthemmt von der fortschreitenden Salonfähigkeit geschlechtlicher Angelegenheiten. Aus dieser sanften Samstagnachmittag-Bewegung gehen Bücher, Theaterstücke und Bilder hervor, die auf pornographischem Parkett erste künstlerische Schritte wagen.
Auf der anderen Seite postuliert ein hysterischer Kunst- und Literaturmarkt das totale Fallen aller Hüllen und Hemmungen, erklärt »Schwanz und Fotze« zum neuen Sprachmaterial und Geschlechtsteile beiderlei Art zum innovativen Bildgut. Einige Künstler behaupten aus Gewohnheit, es handele sich dabei um einen politischen Akt. Andere geben wenigstens zu, dass es vor allem darum geht, die letzte, nicht erneuerbare Reserve eines wertvollen Rohstoffs auszubeuten: das Öl der Originalität. Sex sells , denkt der Markt mit Seitenblick auf leere Theaterkassen, übervolle Büchertische und das jahreszeitenübergreifende Sommerloch der Inhalte und Ideen. Und macht nach, was die Werbung seit Ewigkeiten vormacht: Mit Hintern, Brust und Keule kann man sogar Rentenversicherungen verkaufen – warum also nicht Gar-Nichts? Wenn die barbusigen Nivea-Tanten keinen Hund mehr hinterm Ofen hervorlocken, erfindet man eben etwas Deftigeres. Skandal!, ruft die Presse bei jeder Dame in Lederstrapsen. Uuuuaaaah, macht der Konsument. Und auch in deutschen Theaterhäusern kommt das Publikum trotz schockierend lauter Musik und abspritzenden Leinwand-Jünglingen nicht aus dem Gähnen heraus.
Jetzt bekommt F. rote Backen wie ein BRAVO-Leser auf der Wie-war’s-bei-mir-Seite: »Wir haben eine These!«
Der sogenannten breiten Masse ist es gelungen, die von Berufs wegen progressive und provokative Kunstszene stillschweigend zu überholen. Während Klaus im Reihenhaus gemütlich seinem wie immer gearteten Vergnügen frönt, stampfen die Künstler wie cholerische Kinder mit den Füßen und brüllen »Ficken! Ficken! Ficken!«, bis jeder Zuhörer genervt die Augen verdreht: Bist ja ein böser Junge, ach, was für böse Wörter du kennst! – Und wie immer übt sich der öffentliche Diskurs im Aufputschen von Fragen, die keiner gestellt hat. Bleibt die Frage: Gibt es nichts Dringenderes?
F. lächelt selig. Selten enden Theaterbesuche mit einem Sieg der Wirklichkeit über die Kunst. Ich lächele zurück. Der Tee ist ausgetrunken.
»Genug geredet«, sage ich. » Let’s do it! «
Aber F., mein fiktiver Filosof, erschrickt zu Tode und
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