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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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verblasst.
    2004

End/t/zeit/ung
    Prolog
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Analphabeten und Analphabetinnen, Legastheniker und Legasthenikerinnen, liebe Feinde des gedruckten Wortes!
    Es ist so weit. Sie werden bemerkt haben, dass sich die deutsche Presse in einer schwerwiegenden Krise befindet, die sie mit Hilfe von Anzeigenrückgang und Leserverunsicherung nicht zuletzt selbst herbeigejammert hat. Hinter dem andauernden Klagen ist Überdruss auf allen Seiten zu spüren. Man hat diesseits und jenseits der Redaktionstische keine Lust mehr. Die Leser klagen über das sinkende Niveau der Berichterstattung, die sie für dumm verkaufe, während das Pressewesen die fortschreitende Verblödung ihrer Leserschaft bedauert, der sie sich anzupassen habe. Zudem arbeitet die Rechtschreibreform seit Jahren an der Abschaffung der deutschen Schriftsprache, und das mit zunehmendem Erfolg. Wer will schon Zeitungen lesen? Dank Funk und Fernsehen kann man heutzutage über alles reden, und beim Reden hört man auch die orthographischen Fehler nicht. Zeitungen kosten, wie der Name schon sagt, eine Menge Zeit. Die haben wir nicht. Inaff ist inaff, wie der Engländer sagt. Irgendwann gilt es, Konsequenzen zu ziehen. Warum soll ich zwanzig Minuten in das Lesen eines Artikels investieren, wenn ich zum gleichen Thema eine zweistündige Talg-Schau mit Christiansen sehen kann? Warum soll ich zum Briefkasten gehen, wenn der Fernseher neben dem Bett steht? Warum soll ich die Augen öffnen, wenn ich Radio hören kann? Hat eine Zeitung eine Fernbedienung? Kann man sie ausschalten? Eben. Reden ist Silber, Schreiben ist Schrott.
    Diese Parolen murmele ich bei angeschaltetem Diktiergerät in den langen Bart des Kommunikationszeitalters. Meine Freunde von der taz werden sie drucken, bevor sie ihren veralteten Laden endgültig dicht machen. Danach gibt es Texte wie diesen nur noch auf CD-ROM, als Power-Point-Präsentation, Hörbuch, Kurzfilm, Internetportal oder per SMS direkt aufs Handy. Sie sehen, man braucht kein bedrucktes Papier, um ein Schlagwort in die Welt zu tragen, das heute zum Beginn des großen Blätterwaldsterbens aus der Taufe gehoben wird:
    Entzeitung !
    Meine Damen und Herren, mit Jahresende werden sämtliche deutschsprachigen Zeitungsverlage geschlossen. Wir steigen aus. In anderen EU-Ländern zeichnen sich Bestrebungen ab, unserem Beispiel zu folgen. Ich heiße Sie zum Ende einer Epoche willkommen!
    Als Zeitungsleser werden Sie vielleicht glauben, die tägliche Papierlektüre erfülle wichtige Funktionen in Ihrem Leben. Nachdem Sie zehn Jahre lang auf die Presse geschimpft haben, meinen Sie im Moment ihrer Abschaffung plötzlich, dass es ohne sie auch nicht gehe. Ich kann Sie beruhigen: Es handelt sich hierbei um reine Gewöhnungseffekte, die mit den Konditionierungsmaßnahmen des folgenden Schnellkurses mühelos beseitigt werden können. Mit ein paar Tipps und Ratschlägen machen die folgenden Paragraphen Sie fit für den Post-Printismus. Schließlich soll Ihnen nichts weh tun. Ich wünsche Ihnen eine gute, zeitungsfreie Zeit.
    § 1: Print-Gymnastik
    Sie ist Ihnen wohlvertraut, die weitherzige Gebärde, mit der Sie segnend die Arme ausbreiten, um eine großformatige Zeitung wie die F.A.Z. oder die ZEIT aufzuschlagen. Sie halten sich rechts und links an den Rändern bedruckten Papiers fest, weiten die Brust und führen die Hände auf Augenhöhe rechts und links in die Luft hinaus, als wollten Sie die ganze Welt umhalsen. Und genau darum geht es! Zwischen den ausgestreckten Armen des Zeitungslesers liegt alles, was die Menschheit sich täglich selbst zu erzählen weiß. Ein Mikrokosmos aus Liebe, Hass, Geld, Macht, Glück und Leid. Die betreffende Geste hilft Ihnen dabei, sich auf unserem unübersichtlichen Planeten zu Hause zu fühlen. Beginnen Sie deshalb frühzeitig mit substituierenden Übungen, warten Sie nicht auf das Verlustgefühl! Extra für Sie haben die Experten der Entzeitung einen wirksamen Ausgleichssport entwickelt: die Print-Gymnastik.
    1. Suchen Sie einen besinnlichen Ort auf. Benutzen Sie öffentliche Verkehrsmittel, setzen Sie sich in ein Café, ins Wartezimmer eines Zahnarztes oder an den Tresen einer Bar in Bahnhofsnähe.
    2. Zuerst bringen Sie Ihren Körper in eine entspannte Haltung, Hände auf den Oberschenkeln, die Lippen zu einem O geformt, das für »Ohne Druckerschwärze geht’s besser« steht. Atmen Sie langsam ein und doppelt so lange aus.
    3. Jetzt strecken Sie die Arme schwungvoll zu beiden

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