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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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hin.
    Epilog
    Das besondere Knistern des ersten Auseinanderfaltens. Der Geruch von Tee und frischer Druckerschwärze. Ein verregneter Sonntagnachmittag im Café, die langen Holzspangen am Haken, Wochenendausgaben zwischen Flügelschrauben. Wie die Sonne durch jene einzelne Seite scheint, die ein alter Mann vormittags auf seiner Parkbank liest! Wie der Wind sich jede weggeworfene Zeitung nimmt und aufgeregt darin blättert. Wie unendlich traurig bedrucktes Papier aussehen kann, wenn der Regen es auf die Straße klebt. Generationen von Kindern war sie Hut, Boot und Düsenflugzeug. Tausende von kleinen Katzen sind den Topmeldungen am Bindfaden hinterhergejagt. – Rief da eben jemand: »Ist es nicht schön«? Ein so vielseitiges Wunderwesen sei durch nichts zu ersetzen? Haptisch, olfaktorisch und, ja, selbst akustisch bleibe sie einzigartig? War das einer von denen, die jüngst ihr Abo abbestellten, weil sie immer nur Zeit zum Überfliegen der Headlines auf SPIEGEL ONLINE finden? – Nein, da hat niemand gerufen. Ich denke, ich habe mich verhört. Wir wollen doch das eine nicht abschaffen und durch etwas anderes ersetzen, nur um gleich darauf den Verlust des ersten zu beweinen. Sie können doch, meine Damen und Herren, so kurz vor dem Ziel keinen Rückzieher machen??
    Wenn doch – hier der last exit to Gutenberg :
    1. Nehmen Sie dieses Blatt im Ganzen aus der taz heraus.
    2. Heften Sie die kurze Seite mit Klebeband an einen Besenstiel.
    3. Hissen Sie die weiße Flagge.
    4. Danach gehen Sie los und kaufen sich eine Zeitung. Dann noch eine.
    Oder noch ganz viele.
    2004

Von Cowgirls und Naturkindern
    »Du bist fett geworden«, sagte ich eines Tages zu ihr. Ich wusste, dass es sie verletzte, aber sie lachte nur.
    »Umso besser für dich«, sagte sie. »Wenn du mich nicht begehrst, wird es weniger wehtun, mich nicht zu bekommen.«
    Seit ich mich erinnern kann, befindet sich in meinem Kopf ein Vorrat an Frauen, diffus, verschwommen und gleichzeitig so klar, dass ich sie ohne weiteres beschreiben kann. Da gibt es die kühle Schöne mit Pagenkopf in Blond oder Schwarz, mit weißer Haut und einer unbezwingbaren Arroganz. Oder das Naturkind, lockig, fröhlich, sommersprossig, dazu ein Lachen, das jeden Gang zum Supermarkt in eine Abenteuerreise verwandelt. Oder das selbstbewusste, burschikose Cowgirl, mit wiegenden Schritten und einem Blick, der stets den Horizont nach wilden Pferden abzusuchen scheint.
    Lange regierten diese und ein paar andere als weibliche Despoten das Reich meiner Phantasie. Ich habe viel Zeit damit verbracht, mich in eine von ihnen verwandeln zu wollen. Weiblichkeit ist eine Facette des Wunsches, jemand oder etwas anderes zu sein. Das werden viele bestreiten. Vielleicht würde Bettina Rheims mir zustimmen.
    »Ich liebe dich«, sagte ich.
    »Übertreib nicht«, sagte sie.
    Als ob es Liebe ohne Übertreibung gäbe. Ihr Blick klatschte mir wie etwas Stoffliches ins Gesicht. Manchmal vergaß ich, dass ihr Herz nicht größer war als eine Cocktailkirsche.
    Mit fünfzehn ist die Zeit der Faschingsumzüge vorbei, man kann sich nicht mehr kindlich unbefangen verkleiden. Manchmal trug ich trotzdem eine Perücke zur Schule oder flocht mir das Haar zu kleinen Zöpfen. Hauptsächlich aber bestand meine Kostümierung nicht aus Schmuck und Schminke, sondern aus Gesten, Blicken, einer Haltung und einem Tonfall. Meine Traum-Frauen waren nicht bloß Einträge auf einer Palette von Schönheitsidealen. Sie verkörperten Kampftaktiken für die alltäglichen Zusammenstöße mit der Außenwelt. Unterkühlte Schöne, Naturkind und Cowgirl beantworteten die Frage, ob ich schweigen, lachen oder zurückschlagen sollte, wenn mich etwas verletzte.
    Leider waren ihre Halbwertszeiten stets mit der Länge des Schulwegs identisch. Schon bei den ersten Kontakten zu anderen Menschen begann die jeweilige Rolle zu verblassen und wich einem allgemeinen So-Sein: der Normalität. Das Überlebensreservat von Ikonen ist nun einmal auf die Gebiete der Vorstellungskraft beschränkt. Wirklich werden sie nur in der Inszenierung, und auch dann nur für einen Augenblick. Sie müssen stumm und reglos stehen wie auf vermintem Boden. Bei der ersten falschen Bewegung sterben sie.
    Als ich sie zum ersten Mal sah, hatte sie Schaum vor dem Mund. Ihr Oberkörper war nackt, der Stiel einer Zahnbürste ragte ihr aus dem Gesicht wie ein seltsames Fresswerkzeug, beide Hände steckten tief in den Taschen ihrer ausgebeulten Jeans. Sie stand im Vorraum einer

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