Alles auf dem Rasen
sprachlichen Momentaufnahmen immer wieder von neuem, ja, zu inszenieren. Für mich sind Rheims’ Photographien überraschende Treffen mit alten Bekannten, die in der Außenwelt eigentlich nichts verloren haben. Solche Begegnungen erinnern an die Flüchtigkeit jeder Idee, an das Paradoxon einer nur in Momenten möglichen Unsterblichkeit und damit auch an die größte aller Fiktionen: an die Zeit und die vergebliche Suche des Menschen nach einem Platz in ihr. Das ist Glamour, das ist das Glamouröse der Weiblichkeit. Vielleicht hat auch Männlichkeit mit dem Wunsch zu tun, jemand oder etwas anderes zu sein. Aber ich habe noch keinen Photographen gefunden, der mir das zeigt.
2005
Fliegende Bauten
S ie war elf, ich achtzehn Jahre alt, als ich sie zurückließ, um in einer fernen Stadt zu studieren. Ohne mit der Wimper zu zucken, zog ich ans andere Ende der Republik, während sie schon zu schreien begann, wenn sie den Katzenkorb sah, der eine Reise zum Tierarzt bedeutete. Ihre Landkarte reichte bis zu einem Radius von fünfhundert Metern rund um das Haus, dahinter begann ein Meer aus Angst, in dem es keine Freunde mehr gab. Quer über meine Brust verläuft eine Narbe, ein weißer, gerader Strich: eine Spur des Versuchs, sie auf dem Arm über die unsichtbaren Grenzen ihres Reviers hinauszutragen. Da waren wir beide noch Kinder, und schon damals wohnte in meinem Bauch, genau unter der Stelle, an der sie warm und schnurrend lag, das schlechte Gewissen. Denn ich wollte weg von zu Hause. Und damit auch weg von ihr.
Heimat läuft auf allen Kanälen. Die ARD zeigt die letzten sechs Filme der großen Hunsrück-Trilogie von Edgar Reitz. Theater und Kunstausstellungen kümmern sich um Entortung, Sehnsuchtsplätze und das Nirgendwo. Die Feuilletons sind sich einig, dass sie für die Deutschen wieder ein Thema ist: die Heimat. Vor meinem geistigen Auge lässt der Begriff die Grashalme einer ungemähten Wiese im Wind schwanken und schiebt Abendsonne hinter den Horizont einer liebenswerten Landschaft, während Stimmen aus dem Off Dialektales murmeln. In allen Einzelheiten könnte ich die mit »Heimat« untertitelten Bilder beschreiben. Und das, obwohl ich nicht einmal den Dialekt meiner eigenen Geburtsstadt verstehe. Die liebenswerte Landschaft habe ich noch nie gesehen. Sie ist das Substrat einer medialen Vermittlung, ähnlich dem Hintergrund einer Waschmittelreklame. Ein Etikett auf einer Leerstelle.
Weil die deutsche Sprache im Gegensatz zu vielen anderen das Wort »Heimat« kennt, fühlt man sich hierzulande ständig berufen, dem Begriff einen passenden Inhalt zu suchen. Der DUDEN macht es sich leicht: Heimat sei der Ort, an dem man geboren wurde und aufgewachsen ist. Aber weit gefehlt. Herbert Grönemeyer bringt die einschlägige öffentliche Meinung viel eher auf den Punkt: »Heimat ist kein Ort / Heimat ist ein Gefühl«. Im Zeitalter von Globalisierung, Wirtschaftskrise und Werteverfall kann man etwas Kompliziertes wie Heimat nicht einfach an banal-geographischen Koordinaten festmachen. Abgesehen davon ist örtliche Heimatliebe keine leichte Übung, wenn man von Kindesbeinen an gelernt hat, dass der Boden unter den eigenen Füßen mit dem Tatort eines grauenvollen Verbrechens identisch ist. Deshalb soll Heimat kein konkreter Platz, sondern vielmehr eine Sehnsucht oder Erinnerung sein. Sie ist Liebe, Vertrauen, Sprache, Religion, das Verbundenheitsgefühl zu Menschen und, wenn alle Stricke reißen, ein breitmäuliger Dialekt oder der sonntägliche Geruch nach Leberkäse und Sauerkraut. Das polyphone Gerede lässt vermuten, dass Heimat schlichtweg alles sein kann, was der Fall ist. Solange es beim Individuum X ein irgendwie angenehmes Bauchkribbeln auslöst.
Das Ziehen im Bauch unter der Stelle, auf der die Katze immer gelegen hatte, nahm ich mit, als ich meine Geburtsstadt verließ. Die Katze selbst musste bleiben, weil sie zwei Querstraßen von der Haustür entfernt in Panik verfallen wäre. Was waren 650 Kilometer gegen zwei Querstraßen? Das war schon keine Distanz mehr, das war ein anderer Aggregatzustand. Ich habe nie geglaubt, dass Katzen kein Gedächtnis haben.
Angekommen in der neuen Stadt merkte ich, dass mir etwas fehlte. Solange es mir gelang, nicht an die Katze zu denken, hätte ich soeben vom Himmel gefallen sein können. Mir fehlte das Heimweh. Ich entschied, dass das ein Vorteil sei, kaufte einen Hund und fuhr ihn im Auto herum, bis er sich die Reisekrankheit abgewöhnt hatte und nicht mehr kotzte.
Der
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