Alles auf dem Rasen
Mensch will mehr als einen Geburtsort mit einer Postanschrift. Er sehnt sich nach einem metaphysischen Asyl für seine transzendentale Obdachlosigkeit, nach einem Hauptwohnsitz für die Seele, also nach jenem komplizierten Geflecht, das den inneren Menschen mit seiner äußeren Existenz verbindet. Aber brauchen wir dafür einen Heimatbegriff, der jede noch so existentielle Frage mit dem Kuschelkitsch karierter Küchenvorhänge vermischt? Müssen wir zuvor unisono die Entwurzelung des modernen Globalisierungsbürgers beklagen, der neuerdings sein Eckchen Geborgenheit in der gleichzeitig groß und klein gewordenen Welt vermisst? Ich weiß nicht einmal, wer oder was ein Globalisierungsbürger ist. Das türkische Gastarbeiterkind der zweiten Generation oder der Kriegsflüchtling aus Bosnien sind sicher nicht gemeint. Vielleicht ein Bäckermeister in Castrop-Rauxel, der am liebsten CNN-Nachrichten guckt. Ein Unternehmer, der Geschäftspartner im Ausland hat. Ein deutscher Arzt, der in Dänemark mehr verdient. Ein Miles-and-More-Sammler? Ein Internet-Surfer? Ein Holländer, der sich in Ungarn in eine Französin verliebt?
Die meisten Kommilitonen schienen bereits diverse Langzeitaufenthalte im Ausland hinter sich zu haben, während ich nur zum Schüleraustausch in England und Frankreich gewesen war. Ich fragte mich, ob ich feige sei, oder schlimmer noch: ortsgebunden. Das klang nach »lebenslänglich«. Erasmus und Sokrates verschickten Studenten in sämtliche Mitgliedsländer der Europäischen Union. Meine WG-Mitbewohner und ich planten künftige Berufstätigkeit für internationale Organisationen, multinationale Unternehmen oder den diplomatischen Dienst. Wir lästerten über Bekannte, die jedes Wochenende zur elterlichen Waschmaschine und sogenannten alten Freunden in die Heimatstadt pendelten. In Bewerbungsschreiben für Praktika gaben wir selbstbewusst an, dass wir daran gewohnt seien, jederzeit »woanders« zu leben. Der Gedanke an dieses Woanders ließ mich nachts nicht schlafen. Ich fühlte mich wie ein Kreisel, der nur in schneller Bewegung ruhig und aufrecht stehen kann.
Im Lauf der folgenden Jahre lebte ich jeweils einige Monate in fünf verschiedenen Ländern und besuchte zehn weitere auf Reisen. Der Hund als mobiler Repräsentant der Tierwelt begleitete mich. Es dauerte nicht lang, bis uns Luftwurzeln wuchsen. Ich lernte, an jedem neuen Ort eine bestimmte Anzahl von Gewohnheiten zu errichten, wie ein Zelt, in dem man gemütlich sitzt und das sich mühelos einfalten lässt, wenn man weiterzieht. So mache ich es bis heute. Gleich am ersten Tag verlege ich meine übliche Joggingroute durch die neue Stadt. Sobald ich herausgefunden habe, in welchem Laden ich Wein und Hundefutter kaufen, auf welcher Herdplatte ich Nudeln kochen und welche Tür ich zum Arbeiten oder Schlafen hinter mir schließen kann, bin ich zu Hause. Dabei fühle ich mich weder entwurzelt noch globalisiert, sondern endlich ruhiger. Zum ersten Mal erlebe ich das Gefühl, irgendwo angekommen zu sein. Paradoxerweise wohnt es in der Fähigkeit, mich an fremden Orten möglichst schnell und gut zurechtzufinden. Man könnte das eine tragbare Heimat nennen. Aber in der inflationären Verwendung des Begriffs zeigt sich seine Bedeutungslosigkeit. Eine tragbare Heimat ist keine.
Unser neues Nomadentum ist gar nicht so neu, wie es der Alles-wird-schlechter-Diskurs gern hätte. Zu allen Zeiten gab es Leute, die ausreichend Geld, Intellekt und Handlungsfreiheit besaßen, um sich als Forscher, Kriegsherren, Handels- oder Bildungsreisende nach allen Regeln der Kunst zu globalisieren – oder zu Hause zu bleiben, wenn ihnen das lieber war. Auf der anderen Seite gab es Menschen, die die heimatliche Scholle zu hüten hatten und nicht über Mittel verfügten, um auch nur die Dorfgrenze zu überschreiten. In unserem Teil der Welt hat sich die erstgenannte Gruppe so rasant vergrößert, dass wir heute ein ehemaliges Vorrecht in den Kategorien von Verlust und Bedrohung behandeln können. Nach einer unvergleichlich langen Phase von Frieden und Wohlstand dürfen wir uns auf nostalgische Weise ein bisschen heimatlos fühlen. Das ist echter Luxus. Und es ist kokett.
In melancholischen Momenten lese ich die Definition des Rechtsbegriffs »Fliegende Bauten« im Lexikon nach: »Fliegende Bauten sind bauliche Anlagen, die geeignet und bestimmt sind, an verschiedenen Orten wiederholt aufgestellt und zerlegt zu werden. Beispiel: Zirkuszelte, Jahrmarktsbuden, Toilettenwagen,
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