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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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unser Angebot aufgenommen wurde, war das Haltbarkeitsdatum bereits abgelaufen.«
    Darin erkenne ich meinen eigenen Gedankengang wieder.
    »Ist doch logisch«, sage ich überheblich. »Ein Tabu enthält ein Berührungsverbot. Wenn man es kaufen kann, ist es schon im Zerfall begriffen.«
    Ich hebe die Hand zum Abschied, er packt sie und zieht mich zurück auf den Einkaufswagen.
    »Sie verstehen mich«, sagt er. »Aber was bedeutet es nun, wenn auf dem Markt überhaupt keine Tabus made in Germany mehr erhältlich sind? Wenn niemand etwas davon weiß oder wissen will?«
    Ich merke, wie ich wider Willen Feuer fange.
    »Also was?«, dränge ich.
    »Die Beantwortung der Frage setzt eine Gegenwartsdiagnose voraus. Ein schwieriges Unterfangen, da sich beim Nachdenken über die eigene Zeit die sozialen und politischen Gegebenheiten, die eigentlich Objekt der Betrachtung sein sollen, im betrachtenden Subjekt reproduzieren. Tabus erkennen wir am besten im historischen Rückblick. Denken Sie nur daran, wie man bis zur Neuzeit an das geozentrische Weltbild glaubte: Die Vorstellung einer runden, beweglichen Erde war nicht nur verboten, sie schien auch vollkommen unsinnig. Aus heutiger Sicht ein absurder Irrtum. Zur jeweiligen Zeit jedoch können Tabus im Gewand selbstverständlicher Wahrheiten auftreten.«
    »Und dann bewegt sie sich doch.«
    »Wer?«
    »Na, die Erde«, sage ich. »Und die Weltanschauung. Wie sollen wir also etwas finden, wenn Gegenwartsblindheit uns die Augen verschließt?«
    »Mit Hilfe eines Tricks«, triumphiert der Verkäufer. »Wir simulieren den Rückblick und betrachten die Gegenwart aus einer fiktiven Zukunft als Vergangenheit. Stellen Sie sich vor, Sie seien eine Historikerin im Jahr 2125, die sich vorstellt, eine Völkerrechtlerin im Jahr 2002 zu sein. Wir geraten ins Plaudern.«
    Mein Partner für den Frieden würde nicht nur von supranationalem Augenglänzen, sondern von supranationaler Geistesverwirrung sprechen.
    »Westeuropa im Jahr 2002«, fängt der Verkäufer an. »Mehr als dreihundert Jahre nach Beginn der Aufklärung. Die Macht der Religion war längst gebrochen, man glaubte, auch sämtliche Ideologien abgeschafft zu haben. In allen Bereichen regierte Rationalität. Die Menschen lebten in hochdemokratisierten Gesellschaften, unternahmen Gehversuche in der globalen Kommunikation, beschäftigten sich mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Eine durch und durch tabulose Gesellschaft.«
    »Alles durfte gedacht werden, denn es herrschte Meinungsfreiheit.«
    »Glaubensfreiheit.«
    »Redefreiheit.«
    »Ein Zeitalter«, sagt er, »in dem nicht mehr von Freiheit, sondern von Freiheiten gesprochen wurde …«
    »… und die Devise der Medien lautete: Geben Sie mir ein heißes Eisen, damit ich es anfassen kann.«
    »Es gab keine Propaganda, sondern Werbung. Keine Wahrheiten, sondern Mehrheiten.«
    »Man hatte Meinungen statt Werte, Grundrechte statt Glaubenssätze. Nicht: Du sollst nicht töten –«
    »Sondern das Recht auf Leben. Nicht: Du sollst nicht stehlen –«
    »Sondern das Recht auf Eigentum. Nicht: Du sollst nicht ehebrechen –«
    »Sondern den Schutz der Familie.«
    »Wusste irgendjemand einen Grund, warum diese rationalen Prinzipien, die doch dem Wohl der Menschen dienten, nicht auf der ganzen Welt gelten sollten?«
    »Nein«, sage ich. »Undenkbar.«
    »Undenkbar«, wiederholt er langsam.
    Wir schauen uns an.
    »Wir sind dicht dran«, flüstert er, »machen Sie weiter.«
    »Im Jahr 2002«, sage ich, »verbot die Vernunft sogar Gegenkonzepte zur geltenden Staatsform. Das fiel niemandem auf, obwohl in allen Epochen Utopien existiert hatten.«
    »Interessant. Niemand suchte nach Alternativen, nicht einmal aus akademischem Interesse, nicht einmal aus Lust an der Provokation. Warum?«
    »Die Begründung für die Alternativlosigkeit der Demokratie kam nie über die Bemerkung hinaus, dass Demokratie die schlechteste aller Staatsformen sei – abgesehen von sämtlichen anderen. Trotz nachlassenden Interesses der Bürger an der Politik wagte niemand den Gedanken, dass die Demokratie sich überlebt habe, dass die Politikverdrossenheit kein vorübergehendes Phänomen, sondern ein Zeichen dafür sei, dass der Wille aufhörte, vom Volke auszugehen. Niemand traute sich zu behaupten, die politischen Themen seien im Zeitalter von Computertechnologie, Genforschung und globaler Marktwirtschaft viel zu komplex, um auf verständlichem Niveau in allgemeiner Debatte behandelt zu werden. Das

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