Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
waren die Kartons leer. Fertig, aus.
    Der Motor steht still, ich bleibe noch einen Moment sitzen. Irgendetwas sagt mir, dass dieses Ergebnis blanker Unsinn ist.
    Drei
    Ich drücke dreimal kurz auf die Hupe, das verabredete Zeichen für »rauskommen – reintragen«. Gleich darauf steht mein Partner für den Frieden vor mir.
    »Na, alles gekriegt?«
    »So ziemlich«, murmele ich.
    Er stutzt und hält mich auf Armlänge von sich weg:
    »Du hast wieder dieses supranationale Glänzen in den Augen!«
    Supranationales Glänzen bescheinigt er mir immer, wenn ich seiner Meinung nach von einer europäischen Frage infiziert wurde. Beim Ausräumen des Kofferraums wage ich einen Vorstoß.
    »Hör mal«, sage ich. »Wenn du spontan benennen müsstest, worüber in Deutschland gegenwärtig weder gesprochen noch nachgedacht wird, was käme dir zuerst in den Sinn?«
    »Langsam«, sagt er. »Wenn darüber nicht nachgedacht wird, wie soll es mir als Deutschem überhaupt in den Sinn kommen können?«
    Manchmal hasse ich Naturwissenschaftler. Ich versuche es anders.
    »So als Mediziner«, frage ich, »wie würdest du den Begriff des Tabus definieren?«
    »Ach, darum geht es!«, ruft er. »Hast wohl keine gekriegt?«
    »Nein«, knurre ich. »Freundlichst, beantwortest du bitte meine Frage?«
    »Sigmund Freud nimmt an, dass in bestimmten Fällen ein Begehren ins Unterbewusstsein verdrängt wird, um Konfliktspannungen zu mindern. Das Verbot wird der Psyche introjiziert, es entwickelt sich zu einem festen Bestandteil der Persönlichkeit. Und erreicht damit Tabu-Status.«
    »Das klingt nach Privatangelegenheit. Wieso hat der Europäische Markt so einen Kram dann überhaupt geführt?«
    »Weil ein Tabu nicht nur intrapsychisch wirkt, sondern auch interpsychisch.«
    »Du meinst: gesellschaftlich?«
    »In etwa. Ein Tabu vermeidet Konflikte und erhöht die Handlungsfähigkeit. Im Zusammenleben mit anderen erleichtert es die Verständigung und stellt harmonische Gleichstimmung her, ohne dass lange geredet werden müsste.«
    »Aber nicht bei uns«, sage ich. »Wir sind tolerant und transparent und quatschen alles breit.«
    »Frag dich doch mal, welche Kraft in unserer Gesellschaft überhaupt noch genug Autorität besitzt, um eine kollektive Verdrängung zu erzeugen. Die Kirche bestimmt nicht. Die Intellektuellen auch nicht. Und die Regierung Schröder als Allerletztes.«
    »Die moralische Kraft des Gemeinwesens?«, schlage ich vor.
    »Es gibt keine freischwebende Moral«, behauptet mein Partner für den Frieden.
    »Aber vielleicht freischwebende Resttabus«, beharre ich. »Wie wär’s mit Kindesmissbrauch? Oder Gentechnik. Atomkraft. Nationalsozialismus. Sadomasochismus. Zwangsarbeiterentschädigung. Internet.«
    »Sind doch alles Talkshow-Themen.«
    »Du willst sagen, die Demokratie sei ein tabufeindlicher Zustand?«
    Er zuckt die Schultern:
    »Wäre doch okay.«
    Vier
    Zwei Wochen später bin ich wieder im Europäischen Markt. In der Werteabteilung geht es zu wie auf dem Rummelplatz. Eine Menschenmenge drängt sich um einen Stand, an dem ein neues Produkt präsentiert wird: Anti-Terror-Kampf. Mein Verkäufer mit dem Nietzsche-Schnauzbart ist nirgendwo zu sehen.
    Ich bin schon wieder auf dem Parkplatz, als mir jemand auf die Schulter tippt. Ich erkenne ihn erst auf den zweiten Blick. Sein Schnauzer geht in einen wachsenden Backenbart über, er trägt eine Brille und ist gekleidet wie ein Landstreicher.
    »Achten Sie nicht auf meine Erscheinung«, sagt er. »Das ist Tarnung.«
    »Was machen Sie hier draußen?«, frage ich.
    »Es mag seltsam klingen«, sagt er, »aber ich warte auf Sie.«
    Er zieht mich um das Gebäude herum und zwingt mich, auf einem umgefallenen Einkaufswagen Platz zu nehmen.
    »Hier sind wir ungestört.«
    Wegen der leeren Kartons hat er beim Geschäftsführer der Filiale nachgefragt und eine barsche Abfuhr erhalten. Als er wissen wollte, ob es etwas zu verheimlichen gebe, folgte die Abmahnung. Am nächsten Tag wurde er dabei erwischt, wie er das Lager durchsuchte. Fristlose Kündigung.
    »Das ist ein Skandal«, sage ich.
    »Merken Sie nichts?«, fragt er aufgeregt. »So behandelt man den Tabubrecher, der einer heiligen Kuh zu nahe gekommen ist.«
    Seine Nase zuckt nicht nur, sie zittert regelrecht. Es hat etwas Manisches, wie er sich vorbeugt, um meinen Arm zu fassen:
    »Ich habe Nachforschungen angestellt. Tabus sind keine Artikel aus der üblichen Werteproduktion. Es gibt einen paradoxen Zusammenhang: Immer, wenn ein Tabu in

Weitere Kostenlose Bücher