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Alles auf dem Rasen

Alles auf dem Rasen

Titel: Alles auf dem Rasen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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verpflichten und will wissen, ob ich noch irgendwas anderes kann, singen zum Beispiel oder vorturnen? Ich kann eigentlich nichts, was für die Schweiz interessant wäre, das beunruhigt mich. Von Griechenland erfahre ich vor allem, dass es dieses Jahr Gastland ist. Ob ich schon gehört habe, dass Florian Illies eine Million für sein neues … – Hab ich schon gehört. Was denke ich zu … – Nichts. Denken tu ich derzeit nicht so viel. Ab und zu trete ich auf die Terrasse von Halle 3, rauche eine langsame Zigarette und betrachte nachdenklich die Wolkenkratzer und das übrig gebliebene BMW-Ausstellungsgebäude, das, geformt wie ein Flugzeugrumpf, in Halle 4 steckt. What a mess.
    Jemand tritt neben mich und hält mir einen dieser Schaumstoffbälle an den Mund, die ich immer sofort greifen und auf eine Wiese werfen will, damit meine Hunde sie apportieren können. Aber die Hunde sind aus tierschutzrechtlichen Gründen zu Hause geblieben, und das Ding vor meinem Gesicht ist ein Mikrophon. Ob ich überlegt hätte, wegen der Katastrophe in New York gar nicht auf die Messe zu kommen? Ich erzähle die Geschichte von Weihrauch und Motorrädern, aber das ist die falsche Antwort. Vielleicht ist es naiv, politisch nicht korrekt oder gar ein Zeichen von mangelnder Solidarität, wenn ich keine Angst vor einem Terroranschlag auf die Frankfurter Messe habe. Zwar besitze ich ausreichend Einbildungskraft, um mir ein Horrorszenario auszumalen, aber als Schriftstellerin bin ich gewöhnt, nicht an meine Phantasien zu glauben.
    Panik ergreift mich ausgerechnet während der Schweigeminute, welche die Ameisenstraßen zwischen den Messeständen mit einem Schlag erstarren lässt. Die Atmosphäre wird bedrohlich wie bei einer Sonnenfinsternis, jemand schreit am anderen Ende der Halle in die Stille hinein. Mein Magen, meine Hände und Knie sind überzeugt, dass genau jetzt das riesige Messegewächshaus in die Luft fliegen wird. Nichts passiert, ruckelnd und stolpernd setzt sich der 11. Oktober 2001 wieder in Bewegung.
    Bei Lesungen treffe ich junge Autoren. Wir entschuldigen uns einer beim anderen, die jeweiligen Bücher nicht gelesen zu haben, selbstverständlich nur aus Zeitgründen, was – und das ist das Schlimmste – auch noch stimmt. Auf dem Podium verbrüdern wir uns durch dezente Blicke gegen die Moderatorin, schreiben einander danach Widmungen auf Titelseiten, müssen gleich wieder woandershin und behalten uns in guter Erinnerung. Ich weiß nicht, ob ich erwartet hatte, dass uns der Futterneid die Gesichter zu süßlichem Grinsen verzerren wird, aber jetzt freue und schäme ich mich gleichzeitig. Ein Mädchen lobt meinen Auftritt und freut sich, dass endlich mal jemand »genauso schlecht gekleidet ist« wie sie selbst. – Äh?!? – Kaum habe ich mich umgedreht, sind Tanja Schwarz und Frank Goosen fast schon wieder weg. Ich wollte noch fragen, ob wir schon einen Skandal verursacht, erlebt oder verpasst haben, oder ob es hier immer so gemäßigt zugeht? Immerhin fehlt mir als Messeneuling die Vergleichsbasis. Es können doch nicht alle so angepasst sein wie ich? – Doch. – Vielleicht gehören die Ausgeflippten zu jenen dreißigtausend Besuchern, deren Wegbleiben in diesem Jahr wenigstens nicht dem Niedergang der deutschen Literatur im Ganzen zugeschrieben werden kann? – Nein, gehören sie nicht. Ich beerdige die letzten Vorstellungen davon, dass es immer Schreiberlinge gegeben hat, die schon aus Prinzip anti, contra, provo oder prolo sein müssen und vielleicht mit finsterem Blick und I-love-Kabul-T-Shirt die amerikanischen Verlagsstände umschleichen könnten. Wir sind dafür alle nett zueinander, gehören nicht irgendwelchen Gruppen an und haben deshalb keinen Grund zu streiten. Das Harmoniebedürfnis ist hoch. Warum eigentlich? Haben wir das Gefühl, uns, die junge Gegenwartsliteratur, gemeinsam nach außen verteidigen zu müssen? Oder sind wir zufällig alle so freundliche Einzelphänomene? Jedenfalls muss ein gemäßigter Umgang kein Zeichen für Leidenschaftslosigkeit sein. Tschüs, viel Erfolg und hoffentlich bis bald, rufe ich den Kollegen hinterher.
    »Trotz der Weltlage« wurde die Messe eröffnet, und »trotz der Ereignisse« versammeln wir uns am Abend im Hessischen Hof vor einem barocken Buffet. Überhaupt ist jeder »trotzdem« hier; Messe ist schließlich da, wo keiner hinwill und wo dennoch alle sind. Überschattet werden wir von der aktuellen Situation, der Terror ist unser Hauptthema, was ich bei

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