Alles auf dem Rasen
nicht fragen.«
»Ich schaue nach.«
Während ich, den Autoschlüssel in der Hand, vor der Haustür warte, verschwindet mein Partner für den Frieden im Schuppen. Ich höre, wie er Gerümpel beiseite räumt, Schubladen herauszieht, Schränke öffnet und schließt. Zum Zeitvertreib lese ich das Schild am Gartenzaun, obwohl ich dessen Text längst auswendig kenne: »Nachbarn gesucht: Noch Plätze frei im Europäischen Haus«. Handschriftlich hat jemand mit dickem Filzstift das Wort »vielleicht« eingefügt, und am unteren Rand steht, ebenfalls handgeschrieben, der Satz: Bitte nicht mehr anrufen.
Mein Partner für den Frieden erscheint auf der Schwelle.
»Ich finde keine«, sagt er. »Wenn du sowieso losgehst, bring doch einfach ein paar neue mit.«
Ich verstaue den Einkaufskorb im Wagen und mache mich auf den Weg. Schon von weitem sehe ich die Neonschrift über dem Gebäude leuchten: Globus Europa. Mit ihren riesigen Hallen und weiten Betonflächen sieht die Anlage nicht europäisch aus, sondern wie eine amerikanische Mall.
In der Werteabteilung bekommt man »Alles für die Demokratie«: Freiheiten, Gleichheiten, Menschenrechte jeder Art, meist in guter Qualität. Wenn auch nicht ganz billig. Mal wieder ist die Hölle los. Es wird angebaut, die Unterabteilung für Gemeinsame Grundrechte und Europäische Verfassung kommt hinzu. Hinter einem Restposten Transzendenz entdecke ich die blauen Kittel zweier Angestellter.
»Entschuldigen Sie, ich suche Tabus!«
»Hier?« Das ist keine vielversprechende Reaktion. »Fragen Sie doch mal in der Kosmetikabteilung. Oder bei OBI.«
Sehr witzig. Am Informationsstand wiederhole ich meine Frage. Das Mädchen schiebt die Ärmel des europablauen Kittels zurück.
»Ta-, Tabakwerbeverbot«, murmelt sie. »Hier, Tabus. Bei Naturvölkern die zeitweilige oder dauernde Heiligung eines mit Mana gefüllten … Was sind denn Naturvölker?«
»Nein, nein, in anderer Bedeutung. Lesen Sie weiter.«
»Etwas, das sich dem sprachlichen Zugriff aus Gründen einer unreflektierten Scheu entzieht – meinen Sie das vielleicht?«
Ich nicke.
»Warennummer gelöscht«, sagt das Mädchen. »Tut mir leid, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«
Ich zucke die Achseln, bedanke mich und verschwinde zwischen den Regalreihen. Unser Haushalt hat auch ohne Tabus immer gut funktioniert.
Auf dem Weg zur Kasse zupft mich jemand am Ärmel. Hinter mir steht der Angestellte aus der Werteabteilung, sein Atem geht schnell. Er ist kleiner als ich, trägt einen Schnauzbart wie Nietzsche, und seine Nase zuckt bei jedem Wort.
»Hören Sie«, sagt er, »das hat mir keine Ruhe gelassen. Ich muss Ihnen etwas zeigen.«
»Haben Sie doch noch welche gefunden?«
»Sehen Sie!«
Auf einem leeren, zusammengefalteten Karton klebt das Etikett: Tabus – made in Germany .
»Wir müssen mal welche gehabt haben«, sagt er, »und aus irgendeinem Grund ist die Nachbestellung unterblieben.«
Ich bedanke mich und lasse ihn und seinen leeren Karton zurück. Nachdenklich streicht er seinen Schnurrbart und schaut ins Leere.
Zwei
Auf dem Rückweg beginne ich zu überlegen, ob mir überhaupt jemals ein Tabu begegnet ist. Mir fällt eine amüsante Formulierung des Preußischen Landrechts von 1794 ein, die auf Homosexualität Bezug nimmt als etwas, »das wegen seiner Abscheulichkeit hier nicht genannt werden kann«. Zweifellos: Tabu. Da schlägt sich die Norm selbst die Hände vors Gesicht und verbietet etwas, das sie nicht zu bezeichnen wagt. Gutes altes Preußen. Wenn ein Gesetz jedoch im modernen demokratischen Verfahren zustande käme, könnte es niemals wie ein Tabu funktionieren. Schon der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet, dass jede Norm ihren Gegenstand klar und eindeutig benennt, sonst ist sie verfassungswidrig. Außerdem wird in der parlamentarischen Debatte der Inhalt von Gesetzgebung zur öffentlichen Diskussion freigegeben – jede Regel verlöre spätestens hier ihren Tabucharakter, bevor sie in Gesetzesform gegossen werden kann. Und schließlich wäre da auch noch die vierte Gewalt, die den lieben langen Tag nichts anderes tut, als den ultimativen sprachlichen Zugriff zu leisten.
Während ich den Wagen parke, stelle ich eine These auf: Die Demokratie als Staatsform und das Bestehen von Tabus schließen sich gegenseitig aus. Und weil die Europäische Gemeinschaft nur vollständig demokratisierte Staaten in sich vereint, gibt es auf dem Europäischen Markt keine Tabus mehr, auch nicht made in Germany . Deshalb
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