Alles auf dem Rasen
Staatlichkeit langsam aber sicher die demokratisch ausgeübte Souveränität der Mitglieder auf undemokratischem Weg überholt.
»Mehr Demokratie«, sagt F., »wäre also nett.«
»Das«, sage ich, »kommt überraschenderweise darauf an.«
Die Forderungen, die im Bereich der Verfahrensfragen an die Union gerichtet werden, sind häufig in sich widersprüchlich. Man will Flexibilität und schnelle Reaktionsmöglichkeiten, wenig Bürokratie und nicht so viel redselige Unentschlossenheit. Gleichzeitig wird eine stärkere demokratische Legitimation der Gemeinschaftsentscheidungen verlangt. Hierin steckt ein Wahrnehmungsproblem der öffentlichen Meinung, wie man es auch auf nationaler Ebene kennt. Nicht so viel reden, handeln!, ist eine Stammtischforderung, keine demokratische Maxime. Was häufig als bürokratische Umständlichkeit oder mangelnde Entscheidungsfreudigkeit empfunden wird, kann der regelmäßige Gang eines Rechtsetzungsverfahrens sein. Anliegen von Interessengruppen werden gegeneinander abgewogen, bis eine mehrheitsfähige Kräfteverteilung erreicht ist. Das Tempo, mit dem die europäische Integration auf dringende wirtschaftliche, politische und soziale Wandlungsbedürfnisse in Europa reagiert hat, wäre nicht zu halten gewesen, wenn ein repräsentatives parlamentarisches Legislativorgan jede einzelne Entscheidung hätte treffen müssen.
»Mehr Demokratie«, sagt F., »wäre also nur mehr oder weniger nett.«
»Vergleicht man den gesamten bürokratischen Apparat in Brüssel«, sage ich ausweichend, »mit der Verwaltung des Landesparlaments eines einzigen deutschen Bundesstaats, so verschieben sich ganz plötzlich die Maßstäbe des verwaltungstechnischen Schlankheitsideals.«
»Mit einem Mal«, sagt F., »erscheint Brüssel als die Kate Moss unter den europäischen Verwaltungen.«
»Übrigens habe ich Hunger«, sage ich, »und löse deshalb unseren letzten Widerspruch auf.«
Die Fragen, wie viel Demokratie der Gemeinschaft abverlangt werden kann und wie viel Demokratie die Gemeinschaft ihren Mitgliedern abverlangt, sind voneinander zu trennen. Die EU kann ihre Mitglieder auf die Einhaltung demokratischer Grundsätze sogar unter Androhung von Sanktionsmaßnahmen verpflichten (Art.-6 i.V.m. Art. 7 des Vertrags über die Europäische Union, EUV), und sie kann weiter ein funktionierendes demokratisches System zur zwingenden Voraussetzung der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten machen (Art. 49 I i.V.m. Art. 6 I EUV). Ihre Befugnis hierzu ergibt sich direkt aus den Verträgen. Ein Auftrag hingegen, etwas zugunsten der eigenen Demokratisierung zu unternehmen, findet sich ganz unabhängig davon in der fünften Erwägung der Präambel des EU-Vertrags, nämlich in dem »Wunsch, die Demokratie […] in der Arbeit der Organe weiter zu stärken«. Der erhoffte stabilisierende Effekt einer EU-Mitgliedschaft auf die politischen Systeme der Teilnehmerstaaten ergibt sich also nicht als vertikales Harmonisierungsphänomen aus einer demokratischen Verfasstheit der EU selbst, sondern aus dem beschriebenen begünstigenden Zusammenwirken von florierender Marktwirtschaft und gelingender Demokratie.
»Es schadet also nichts«, sagt F., »dass die EU, würde sie einen Beitrittsantrag an sich selber richten, diesen ablehnen müsste: freie Marktwirtschaft voll befriedigend; Demokratie mangelhaft.«
»Dieser Beitrittsantrag«, sage ich, »würde bereits an der fehlenden Staatsqualität scheitern, die nach Art. 49 EUV ebenfalls zwingende Voraussetzung ist.«
»Ich fasse zusammen«, sagt F., während er sich von der Couch erhebt. »Die EU produziert, ohne sich selbst beitreten zu müssen, eine aufgehende Mischung von Freude und Eierkuchen, wobei sie selbst nicht wesentlich dicker werden will als Kate Moss, sondern lieber weit und tief wie der Atlantik. Wunschzettel schreibt sie nicht nur in der Vorweihnachtszeit, und darüber freuen sich ihre steinewerfenden Gegner, die untereinander eigentlich nichts miteinander zu tun haben, sich aber trotzdem ganz gut verstehen, so dass nach alledem kein Anlass zum Weinen besteht, es sei denn aufgrund einer akuten Bindehautreizung.«
»Äh, ja, genau«, sage ich. »Und was kochen wir heute zum Abendessen?«
»Am besten einen Eierkuchen«, meint Freund F., »den man zugleich essen und behalten kann. Wie ich dich kenne, weißt du das Rezept.«
2002
Supranationales Glänzen
Eins
»Haben wir eigentlich noch Tabus?«
»Wieso, fährst du zum Europäischen Markt?«
»Sonst würde ich ja
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