Alles auf dem Rasen
demokratische Entscheidungsverfahren sei zu träge, um mit den hochdynamischen Veränderungen in Wirtschaft, Wissenschaft und internationaler Politik Schritt zu halten.«
»Aber vielleicht gab es wirklich keine Alternativen.«
»Ha!«, rufe ich. »In wenigen Strichen skizziert: Abschaffung des Parlaments. Mitbestimmung des Bürgers durch individuelle Verteilung eines Prozentsatzes der Einkommenssteuer auf verschiedene Ressorts. Alle paar Jahre Direktwahl einer aus Expertengremien bestehenden Regierung, und zwar nicht nach dem politischen Links-Rechts-Prinzip, sondern durch Beantwortung eines sachbezogenen Fragenkatalogs. Dazu eine zweite Kammer aus Volksvertretern als Korrektiv. Schließlich Plebiszite für existentielle Fragen des Gemeininteresses.«
»Verwegen. Aber nicht undenkbar.«
»Die Europäische Union funktionierte ohnehin von Anfang an faktisch ohne echtes Parlament. Ihre Gesetze beeinflussten im Jahr 2002 den überwiegenden Teil der nationalen Legislativarbeit. Über das Demokratiedefizit wurde beständig gejammert, aber niemand unternahm etwas dagegen.«
Er schaut mir direkt ins Gesicht, seine Nase zuckt jetzt auch, wenn er nicht spricht.
»Und warum nicht?«, fragt er.
»Man könnte auf die Idee kommen, dass die Umgehung der Demokratie eine Bedingung der europäischen Integration gewesen ist. Sie wäre nie so weit fortgeschritten, wenn jede Richtlinie eine parlamentarische Mehrheit benötigt hätte. Schauen Sie sich an, wie lange es dauerte, bis eine Gesetzesvorlage den Deutschen Bundestag passierte.«
»Und dabei wurde schon im Jahr 2002 die eigentliche Arbeit nicht im Parlament, sondern in Ausschüssen erledigt.«
»Selbstverständlich. Ein Heer von Abgeordneten konnte sich nicht mit transgenen Pflanzen, der Steuerfreistellung von Arbeitnehmertrinkgeldern und hüttenknappschaftlichen Zusatzversicherungen beschäftigen. Im Tagesgeschäft segnete das nationale Parlament die Ergebnisse von Expertengremien ab.«
»Wenn wir noch lange weiterreden, wird die Abschaffung des Parlaments zu einer bloßen kosmetischen Operation.«
»Dann fragen Sie doch mal in der Kosmetikabteilung nach«, sage ich ironisch.
Das überhört er geflissentlich.
»Aber was«, fragt er, »wäre damals, im Jahr 2002, passiert, wenn zum Beispiel ein Angestellter des Europäischen Marktes öffentlich die Abschaffung des Parlaments verlangt hätte?«
»Man hätte ihn ausgelacht. Oder als Verfassungsfeind verfolgt. Als Faschisten womöglich.«
»Jedenfalls hätte er seinen Job verloren.«
Betroffen sehen wir uns an. Ich hole tief Luft.
»Aus dem Rückblick«, sage ich, »aus Sicht des Jahres 2125 ist deutlich zu erkennen, dass sich hinter der Überzeugung, bei der parlamentarischen Demokratie handele es sich um die einzig mögliche Staatsform, ein Tabu verbarg. Über eine grundlegende Reform des geltenden Systems konnte nicht einmal nachgedacht, geschweige denn gesprochen werden.«
Lange sagt keiner von uns ein Wort.
»Ist das schlimm?«, fragt er schließlich.
»Na ja«, sage ich, »wenn Wirtschaft, europäische Integration, die sogenannte Globalisierung und das anarchische Internet tatsächlich unbemerkt an der Überwindung der Demokratie arbeiten sollten, dann könnte es nicht schaden, über Entwicklungsmöglichkeiten nachzudenken. Und sei es aus wissenschaftlichem Interesse.«
»Sie haben Recht. Ein Tabubrecher müsste dafür plädieren, den demokratischen Schein nicht der Wirklichkeit zum Trotz aufrechtzuerhalten. Nicht ständig mehr Demokratie zu fordern, sondern lieber herauszufinden, was wir wirklich wollen und brauchen.«
Der Verkäufer erhebt sich und drückt mir die Hand.
»Auf Wiedersehen.«
»Aber«, sage ich, »was machen wir denn jetzt?«
»Machen?«, fragt er über die Schulter. »Wieso machen? Es ging doch um ein Erkenntnisproblem. Danke für die Hilfe.«
Schluss
Mein Partner für den Frieden empfängt mich auf der Schwelle und nimmt mir die Einkäufe ab.
»Heute habe ich etwas Besonderes dabei«, sage ich. »Ein frisches Tabu. Auf dem Schwarzmarkt erworben.«
Er schaut mich misstrauisch an:
»Zeig mal.«
Ich packe aus:
»Man kann in unserem formaldemokratischen System schlechterdings alle Tabus brechen und besprechen, wobei sich zeigt, dass es keine echten Tabus sind. Aber die Demokratie selbst darf man nicht in Frage stellen: Sie ist tabu.«
Er schaut noch misstrauischer.
»Wie findest du das?«, frage ich.
»Absurd«, sagt er. »Bist du jetzt supranational übergeschnappt? Du solltest
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