Alles auf eine Karte
Fenster auf die mit Veilchen und Stiefmütterchen bepflanzten Töpfe starrte, die den kurzen Fußweg zum extrabreiten Wohnwagen meines Vaters säumten. Beim Anblick der üppig bunten, kräftig wirkenden Pflanzen wunderte ich mich wieder einmal darüber, wie sich mein Dad so hingebungsvoll um seine Blumen kümmern konnte, während seine einzige Tochter sich immer wieder fragte, ob sie ihm auch nur ansatzweise so am Herzen lag wie sein Grünzeug.
Sobald sich der Staub gelegt hatte, stieg ich aus und ging zur Tür. Ich klopfte vorsichtig, wobei ich sein Geburtstagsgeschenk, ein neues Scrabble-Spiel, hinter dem Rücken verbarg. Mein Dad liebt Scrabble, und wenn er gut drauf ist, macht es einen Riesenspaß, mit ihm zu spielen. Unsere Nachmittage mit Scrabble und Boggle sind ein fester Bestandteil meiner Kindheitserinnerungen und haben vermutlich mehr zur Entwicklung meines umfangreichen Wortschatzes beigetragen als so manche Schulstunde. Den meisten meiner Mitschüler an der Highschool wäre nicht im Traum in den Sinn gekommen, nach dem Abschluss zu studieren. Manchmal frage ich mich, ob es meinem Dad lieber gewesen wäre, wenn ich es auch nicht getan hätte. Nicht jeder Mensch ist fürs College geschaffen , hatte er gesagt, als ich ihn damals in meine diesbezüglichen Pläne eingeweiht hatte.
Ich klopfte erneut.
Dann fiel mir auf, dass sein Pick-up nicht in der Einfahrt stand.
Ich sah auf die Uhr. Es war fünf nach zwei. Ich hatte mich für zwei angekündigt und versprochen, ihn zum Essen auszuführen.
Ich zückte mein Handy, wählte seine Festnetznummer und hörte das Telefon auf der anderen Seite der Tür klingeln. Er ging nicht ran, und der Anrufbeantworter war ausgeschaltet. Ein Handy besaß er nicht, ich hatte also keine andere Möglichkeit, ihn zu erreichen.
Ich setzte mich wieder ins Auto und wartete eine knappe halbe Stunde, dann stieg ich noch einmal aus und deponierte sein Geschenk hinter dem Fliegengitter. Als ich auf dem Weg zurück zum Wagen war, erschien Mrs Williams, seine Nachbarin, und setzte sich auf den Schaukelstuhl vor ihrem Wohnwagen.
»Ach, hallo, Waverly! Wie geht es dir, Kindchen? Komm doch auf einen Sprung rüber.« Als ich vor zwölf Jahren von zu Hause ausgezogen bin, um aufs College zu gehen, hat mein Dad das winzige Haus, in dem wir bis dorthin gelebt hatten, quasi noch am selben Tag verlassen, und seither wohnt er hier in dieser Siedlung neben Mrs Williams. Sie hat sich in all dieser Zeit kein bisschen verändert. Mit ihren Pausbäckchen und dem freundlichen Lächeln sieht sie aus wie der Archetyp einer Großmutter, wie sie sich alle Kinder wünschen.
»Tag, Mrs Williams«, begrüßte ich sie lächelnd. »Mir geht es gut, und Ihnen?«
»Bestens. Du suchst wohl deinen Vater?«
Ich nickte. »Wir waren zum Mittagessen verabredet, weil er doch heute Geburtstag hat. Sie wissen nicht zufällig, wo er steckt?«
»Er ist vor ein paar Stunden zum Thunder Valley rübergefahren, um ein bisschen Dampf abzulassen, wie er sagte. Was die Ursache für seine schlechte Laune war, hat er allerdings nicht erwähnt.« Sie lachte. »Ich wusste gar nicht, dass heute sein Geburtstag ist. Wahrscheinlich geht es ihm gegen den Strich, dass er älter wird. Mir macht das jedenfalls ziemlich zu schaffen.«
»Thunder Valley?«, fragte ich. »Was ist das?«
»Ein Casino, drüben im Indianerreservat.«
»Er ist zu einem Casino gefahren?«
»Soweit ich weiß, ja. Möchtest du auf eine Tasse Kaffee hereinkommen? Vielleicht kommt er ja bald zurück.«
Ich schüttelte den Kopf und sah auf die Uhr. »Das ist nett von Ihnen, danke, aber ich glaube, ich mache mich lieber wieder auf den Weg.«
Mrs Williams verschränkte die kurzen Arme vor der drallen Brust. »Schade, dass du nicht noch ein wenig bleiben kannst, wo du doch so selten hier bist.«
»Oh …« Ich schob mit der Fußspitze ein paar Kieselsteine hin und her. »Ich hatte unheimlich viel zu tun in letzter Zeit.«
»Dein Daddy freut sich immer riesig, wenn du kommst, musst du wissen.«
Ich hob den Kopf. »Ach, ja?«
»Na, und wie! Er redet von nichts anderem als von dir und deinem tollen Job in San Francisco.«
»Ehrlich?«
Sie nickte. »Komm bald mal wieder, ja, Waverly?«
»Mach ich, Mrs Williams. Versprochen. Wiedersehen.«
»Wiedersehen, Waverly.«
Ich betrachtete ein letztes Mal die gepflegten Topfblumen meines Vaters, dann fuhr ich zurück nach San Francisco.
*
Gegen fünf traf ich wieder zu Hause ein und trug den Weihnachtsbaum, den ich
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